
Nukleartechnik: Lehren aus Fukushima
Ein Jahr nach Fukushima Lehren aus dem Atomschock
Explodierende Reaktorgebäude, Menschen auf der Flucht vor gefährlicher Strahlung, verödete Landstriche - die Atomkatastrophe von Fukushima hat der Welt gezeigt, was passiert, wenn Kernenergie außer Kontrolle gerät. Jetzt, ein Jahr nach der Katastrophe, stellt sich die Frage: Welche Lehren müssen Konstrukteure, Betreiber und Aufsichtsbehörden aus dem Desaster ziehen?
Deutschland hat eine klare Antwort auf diese Frage gefunden: den Ausstieg aus der Atomkraft. Doch das wird Jahre dauern. Und was ist mit all jenen Staaten, die auch in Zukunft auf Nukleartechnik setzen?
Bei der Auslegung von Atomanlagen, vor allem das hat Fukushima gezeigt, dürfen selbst extreme Szenarien nicht ausgeschlossen werden. In Japan hat eine Verknüpfung zweier Katastrophen, eines Erdbebens und eines anschließenden Tsunamis, zum Kollaps geführt. "Wenn man einen Reaktor gegen Naturereignisse auslegt, muss man auch konsequent sein", fordert Hans-Josef Allelein, Reaktorsicherheitsexperte an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH) Aachen."Bei der Erdbebengefahr haben die Japaner alles Mögliche getan, dieselbe Sicherheitsphilosophie hätten sie auch auf das Tsunami-Risiko anwenden müssen."
Nach bisherigem Stand war es vor allem die 14 Meter hohe Welle, die weite Teile der Anlage zerstörte und den Atomunfall beschleunigten. Niemand wird nun ernsthaft fordern, jeden Reaktor der Welt mit einer besonders hohen Tsunami-Schutzmauer zu versehen. Vielmehr müssen Betreiber und Atomaufseher die individuellen Risiken für jeden Meiler unter die Lupe nehmen. Anschließend müssen sie Sicherheitskonzepte auch auf unwahrscheinlich scheinende Szenarien hin prüfen und Verbesserungen zügig umsetzen.
Die Stresstests, die es in den vergangenen Monaten unter anderem in Japan, Frankreich und Deutschland sowie auf EU-Ebene gab, können da nur der Anfang sein. Darüber hinaus gibt es aber noch weitere, konkrete Lehren aus Fukushima.
Problem Notstrom - gefährliche Nähe
Elf von zwölf Notstromaggregaten wurden in Fukushima vom Tsunami zerstört. Das Problem: Die Dieselgeneratoren standen zum Teil im Keller der Reaktorgebäude und insgesamt recht dicht beieinander. So konnte das Wasser fast alle außer Gefecht setzen. Nur ein einziges, luftgekühltes Notstromaggregat bei Block 6 stand hoch genug, um den Fluten zu widerstehen. Immerhin hatte es eine eigene Dieselversorgung. Doch das war zu wenig, um die Versorgung mit Elektrizität zu sichern.
"Es gab nicht genügend Diversifizierung bei der Bereitstellung der Notfallstromversorgung", sagt Mike Weightman, oberster Nuklearaufseher Großbritanniens, im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. Er war wenige Wochen nach dem Unglück in Fukushima. Im Auftrag der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEA) leitete er eine Expertenmission in das beschädigte Kraftwerk.
Die Notstromdiesel, schlägt Weightman vor, sollten von unterschiedlichen Herstellern stammen und von unterschiedlichen Wartungscrews betreut werden. In jedem Fall müssten die Generatoren an verschiedenen Stellen auf dem Reaktorgelände gesichert aufgebaut werden.
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"Am besten verteilt man das auf alle vier Himmelsrichtungen", rät der Aachener Fachmann Allelein. Deutsche Kraftwerke der sogenannten Konvoi-Bauform sind in dieser Beziehung nachgebessert worden. Auch beim Stresstest der Meiler war die Diversifizierung der Notkühlsysteme ein wichtiges Kriterium.
Fukushima hätte von Sicherheitstechnik profitiert, wie sie moderne Reaktoren - etwa der EPR des französischen Nuklearkonzerns Areva oder das Modell AP1000 des US-Herstellers Westinghouse - längst haben: passive Kühlsysteme. Neuere Meiler können mit Hilfe von hoch im Gebäude untergebrachten Wasserbassins auch ohne Strom gekühlt werden. Die Reservoirs werden automatisch angezapft, wenn die Generatoren ausfallen. So soll das abklingende nukleare Feuer ohne Eingriff von außen bis zu 72 Stunden im Griff gehalten werden. Doch im japanischen Uralt-Meiler gab es so etwas nicht.
Problem Wasserstoff - wohin mit dem gefährlichen Gas?
Vollends unmöglich gemacht wurden die Notfallmaßnahmen in Fukushima, als nacheinander drei Reaktorgebäude durch Wasserstoffexplosionen beschädigt wurden. Das gefährliche Gas war entstanden, als Zirkonium aus den schmelzenden Brennstabhüllen bei hohen Temperaturen mit Wasserdampf reagierte. Gegen die Entstehung des Wasserstoffs hätte man zu diesem Zeitpunkt schwerlich etwas tun können - doch hätten die Folgen weniger gravierend ausfallen können.
Da ist zum einen die Sache mit den gekoppelten Blöcken. So hatte es am 15. März gegen 6 Uhr im Block 4 des Kraftwerks eine mächtige Wasserstoffexplosion gegeben, dabei war der zum Zeitpunkt des Erdbebens gar nicht am Netz. Die erste Theorie lautete, dass Wasserstoff, der an alten Brennelementen im Abklingbecken des Blocks 4 entstanden war, die Detonation verursacht hatte. Doch mittlerweile scheint festzustehen, dass das hochexplosive Gas durch Lüftungsrohre von Block 3 ins Nachbargebäude gelangt war. Für die Zukunft gibt es deswegen nur einen Schluss: "Die Blöcke müssen sauber voneinander trennbar sein", fordert Allelein.
In den Pannenreaktoren von Fukushima konnten sich über Stunden außerdem immer größere Mengen an Wasserstoff ansammeln. Mit einer rechtzeitigen Druckentlastung, dem sogenannten Venting, hätte eine Explosion womöglich verhindert werden können. Das Institute of Nuclear Power Operation, eine Denkfabrik der US-Atomindustrie in Atlanta, hat nach Angaben der "New York Times" beklagt, die Japaner hätten sich viel zu spät zu diesem Schritt entschlossen.
Ein Grund dafür war wohl auch, dass sie eine radioaktive Verseuchung der Umgebung befürchteten, weil es keine Filter gab, die strahlende Verbindungen im Reaktorgebäude zurückgehalten hätten. "Wenn man Venting betreibt, dann muss man das eigentlich mit Filtern tun", sagt Allelein.
Auch müssen die Ventile zur Druckentlastung zuverlässig funktionieren, am besten ohne elektrischen Strom. "Man sollte Ventile einbauen, die notfalls zum Beispiel mit Druckluft von außen zu öffnen sind", sagt Michael Buck vom Institut für Kernenergetik und Energiesysteme der Universität Stuttgart. Die Absperreinrichtungen müssen außerdem so montiert sein, dass man sie im Fall der Fälle erreichen kann.
Mit dem Öffnen der Ventile hatten sich in Fukushima Zweiertrupps von Tepco-Arbeitern geplagt. Einer versuchte sein Glück am widerspenstigen Absperrhahn, der andere maß die Strahlung. Trotz des hohen persönlichen Einsatzes der Kraftwerksarbeiter war das Ergebnis ernüchternd, die Bilder der zerstörten Gebäude gingen um die Welt. "Es war dunkel, es war sehr schwer, diese Arbeiten per Hand zu erledigen", sagt Weightman. "Die Entwickler müssen sich in Zukunft viel besser überlegen, unter welchen Bedingungen solche Ventile genutzt werden."
Problem Notfallsystem - robuste Technik, trainierte Einsatzkräfte
Drei Feuerwehrautos standen in Fukushima für den schlimmsten aller möglichen Fälle bereit: Sie hätten die sterbenden Notkühlsysteme mit frischem Wasser versorgen sollen. Allerdings wurde eines der Autos durch den Tsunami beschädigt, das andere konnte wegen Trümmerteilen nicht bewegt werden, die auf den Straßen bei den Reaktoren 5 und 6 lagen.
Bleibt eine entscheidende Lektion: Notfallsysteme müssen so ausgelegt sein, dass sie selbst im größten Chaos noch funktionieren. In Fukushima war das einzig verbleibende Feuerwehrauto zu schwach, größere Wassermengen in den unter hohem Druck stehenden Kühlkreislauf zu pumpen.
Das marode Notfallsystem führte auch an anderer Stelle zu teils abstrusen Szenen. Weil den Tepco-Technikern in den Stunden größter Verzweiflung der Strom für Messanzeigen im Kontrollraum fehlte, sammelten sie auf dem Firmenparkplatz Autobatterien ein, um sie als Energiequellen zu nutzen - und konnten so zumindest zeitweise einige Instrumente ablesen. Bei zukünftigen Krisen muss die Stromversorgung der Instrumente mit unabhängigen und robusten Notfallbatterien auf dem Gelände gesichert sein.
Technische Hilfsgeräte und Bedienpersonal könnte man auch aus zentralen Depots zu havarierten Atommeilern schicken, am besten mit Hubschraubern. In Deutschland gibt es für vergleichbare Aufgaben zwar den Kerntechnischen Hilfsdienst in Eggenstein-Leopoldshafen. Ob das Unternehmen mit seinen gut 20 Mitarbeitern allerdings eine Katastrophe vom Ausmaß Fukushimas bewältigen könnte, erscheint fraglich. Helikopter? Fehlanzeige.
Auch bringt das beste Katastrophenschutz-Equipment nicht viel, wenn der Einsatz nicht regelmäßig trainiert wird. Auch das ist - zumindest indirekt - eine Lehre aus Fukushima: Katastrophenübungen müssen regelmäßig abgehalten werden, damit im Katastrophenfall routiniert gehandelt werden kann.