Explosion in AKW Japan zittert vor dem Katastrophenreaktor
Tokio - Es ist das Szenario, vor dem sich die Welt fürchtet: Nach dem schweren Erdbeben in Japan ist es im beschädigten AKW Fukushima 1 zu einer Explosion gekommen. Stunden, nachdem der Fernsehsender NHK die ersten Bilder einer Rauchwolke über dem AKW erstmals sendete, könnte die Verunsicherung kaum größer sein. Hubschrauber kreisen über dem AKW, immer wieder gibt es Statements der japanischen Regierung ( Liveticker hier). Die vielen Sätze haben vor allem zwei Botschaften: Die Situation sei "sehr ernst" - aber die Menschen sollten "Ruhe bewahren".
Widersprüchlicher könnten die Aussagen kaum sein.
Die Moderatoren des japanischen Senders Broadcasting System Television (BST) treten nach dem Erdbeben mit Helm vor die Kamera, zum Schutz vor herabfallenden Trümmern. Derart ausgerüstet vermitteln sie den Menschen, was im atomaren Ernstfall zu tun ist: in den Häusern bleiben, Fenster schließen, Klimaanlagen abstellen. Im Freien solle man eine Maske tragen, es gelte, Hautkontakt mit der Luft so weit wie möglich zu vermeiden. Wer draußen war, solle sofort duschen und seine Kleider ablegen. Die Regierung bereitet sich darauf vor, die Bevölkerung mit Jod zu versorgen.
Was aber ist genau passiert?
Nach Angaben der Regierung führte eine Verpuffung der Gase zwischen Reaktor und Reaktorhülle zu der Explosion, die sich am Vormittag deutscher Zeit ereignete. Dabei wurde die äußere Reaktorhülle zerstört. Die Betreiberfirma des AKW, Tokyo Electric Power Company (Tepco), bestätigte die Explosion. Vier Arbeiter seien bei dem Vorfall verletzt worden, sie werden in einer Klinik behandelt, seien aber bei Bewusstsein.

Tsunami-Folgen: Explosion in Kernkraftwerk
Die Betreibergesellschaft Tepco erklärte unterdessen, dass an der inneren Reaktorhülle keine Schäden entstanden seien. Das bestätigte auch Regierungssprecher Yukio Edano. "Aus dem Reaktor tritt keine Radioaktivität aus." Die Strahlungsbelastung rund um das Kraftwerk sei bereits dramatisch gefallen. Der ursprüngliche Anstieg sei durch das kontrollierte Ablassen der Gase zwischen Reaktor und äußerer Reaktorhülle entstanden. Zunächst hatte ein japanischer Fernsehsender berichtet, es habe sich "die erste nukleare Kernschmelze auf japanischem Boden" ereignet. Ministerpräsident Kan versicherte bei einer Pressekonferenz jedoch, es habe keine Kernschmelze stattgefunden.
Allerdings besteht weiterhin die Gefahr einer Kernschmelze, da das Kühlsystem des Reaktors funktionsunfähig zu sein scheint. Regierungssprecher Edano erklärte, man plane nun, den betroffenen Reaktor mit Meerwasser zu umhüllen.
Die Atomsicherheitsbehörde hatte bereits am Vormittag deutscher Zeit Cäsium und Jod in der Umgebung des Kraftwerks nachgewiesen und daraus geschlossen, dass der Reaktor bereits teilweise geschmolzen sei.
Evakuierungszone um das AKW ausgeweitet
Damit ist jedoch nicht gesagt, dass die weiterhin drohende Kernschmelze nicht doch noch zu einer weiteren Explosion, diesmal im Reaktor selbst, führt. Dieses Szenario wird gemeinhin als Super-GAU bezeichnet - eine derartige Katastrophe hatte sich 1986 im sowjetischen Kraftwerk Tschernobyl ereignet.
Nach NHK-Angaben war die Strahlung an der Zufahrt zum AKW um 15.29 Uhr (Ortszeit) um ein Vielfaches erhöht. Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) hat nach eigenen Angaben noch keine weiteren Informationen zu dem Vorfall. Laut der Nachrichtenagentur Kyodo wurde die Evakuierungszone rund um das AKW verdoppelt und auf 20 Kilometer ausgeweitet. Bislang betrug sie zehn Kilometer.
Ian Hore-Lacy, Direktor der industrienahen World Nuclear Association, sagte, er gehe davon aus, dass es sich um eine Wasserstoffexplosion handele. "Der Wasserstoff entzündet sich, und dann ist er weg und stellt keine weitere Gefahr dar", sagte er. Ein Reaktor-Experte, der die Fernsehbilder ausgewertet hatte, hält es dagegen für wahrscheinlich, dass es bereits eine Kernschmelze gegeben hat. Er wollte mit dieser Einschätzung aber nicht namentlich zitiert werden.
Auch Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU) vermutet, dass es zu einer Kernschmelze gekommen ist. "Anhand der uns vorliegenden Informationen neigen wir dazu, dass dort eine Kernschmelze im Gange ist", sagte er im WDR-Hörfunk. Eine Bedrohung für Deutschland und Europa sei aber nahezu ausgeschlossen. Im Anschluss an eine Krisensitzung mit Bundeskanzlerin Merkel soll die Bevölkerung über die Einschätzung der Bundesregierung zur Erdbebenkatastrophe und ihren Auswirkungen informiert werden.
TV-Berichten zufolge war der Grad der in der Anlage gemessenen Radioaktivität nach der Explosion 20-mal so hoch wie normal. 1015 Mikrosievert entsprechen 1,015 Millisievert. 2,4 Millisievert gelten dem Uno-Ausschuss für die Effekte radioaktiver Strahlung zufolge als durchschnittliche Jahresdosis, der Menschen auf der Erde ausgesetzt sind. Innerhalb von zwei Stunden nehmen Menschen in der Umgebung des Kraftwerkes nach derzeitigem Kenntnisstand die übliche Jahresdosis Strahlung auf.
Anweisungen für den Ernstfall
Nach Informationen der BBC fahren Einsatzkräfte der Polizei mit Sirenen durch die Region und warnen die Menschen per Lautsprecher. Das Gebiet rund um das AKW ist weiträumig abgesperrt. Augenzeugen berichten von Hamsterkäufen. Einige Bürger seien bereits Richtung Süden aufgebrochen, um sich vor einer möglichen Atomkatastrophe im Nordosten des Landes in Sicherheit zu bringen.
NHK sendet Notfallinformationen und bittet die Menschen, sich feuchte Tücher vor das Gesicht zu halten.
Betreiber hat Pannen-Vergangenheit
Ein medizinisches Notfallteam wurde zu dem AKW geschickt, für den Fall, dass Menschen dort radioaktiver Strahlung ausgesetzt sein sollten. Zu der Gruppe gehören Ärzte, Pflegepersonal und Fachleute für die Messung von Radioaktivität. Sie sollen ihre Arbeit in einem Nuclear Desaster Response Center, fünf Kilometer vom Kraftwerk entfernt, aufnehmen.
Die Betreiberfirma Tokyo Electric Power Company (TEPCO) ist schon in der Vergangenheit durch zahlreiche Pannen aufgefallen. 2002 musste der Chef abdanken, weil er unter Verdacht stand, Aufzeichnungen über die Sicherheit eines AKW gefälscht zu haben. In 29 Fällen sollen Reparaturnachweise verändert worden sein. Fünf Reaktoren mussten daraufhin für Sicherheitschecks vom Netz genommen werden. Das AKW Fukushima ist bereits seit 40 Jahren am Netz.
Schon vor der Explosion war aus dem AKW Cäsium ausgetreten. Natürliches Cäsium 133 ist ein goldglänzendes, sehr weiches Metall und kommt in winzigen Spuren in den Gesteinen der Erdkruste vor.
Sein radioaktiver Verwandter, das gefährliche Cäsium 137, entsteht bei der Kernspaltung. Bei der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 waren große Mengen davon entwichen. Das Sperrgebiet um den Reaktor hat bis heute einen Radius von 30 Kilometern.
Es kann über die Abluft oder das Abwasser aus Atomanlagen gelangen und wird direkt oder über die Wurzeln von Pflanzen aufgenommen. Über diesen Umweg kommt es auch in Milch, Fleisch und Fisch. Pilze waren nach der Katastrophe von Tschernobyl besonders belastet. Hohe Konzentrationen können Muskelgewebe und Nieren des Menschen schädigen. Es verteilt sich gleichmäßig im Körper, so dass seine Strahlung den ganzen Organismus trifft.