Gemeißelte Geheimnisse Forscher entziffern jüdische Grabinschriften
Der Gang ist knapp ein halbes Jahrtausend alt und erstaunlich gut erhalten. Stabiles Mauerwerk, keine Feuchtigkeit, nichts modert. "Das liegt am Luftzug", erklärt Pia Heberer. Dadurch bleibt alles trocken und der Mörtel von Fäulnis verschont. Heberer schaut sich die niedrige gewölbte Decke genau an. Offenbar wurde der Gang von oben herab gegraben, gemauert und anschließend mit Erdreich wieder zugedeckt.
Der Bau des seltsamen Tunnels am Anfang des 16. Jahrhunderts war ein absoluter Frevel. Er diente wohl als Fluchtgang und verlief von der damaligen Wormser Stadtmauer unter dem "Heiligen Sand", Europas ältestem jüdischen Friedhof. Die Grabungsarbeiten verstießen gegen das jüdische Gebot der ewigen Totenruhe. In einem Schriftstück von 1519 beschwert sich die israelitische Gemeinde der Domstadt darüber, dass christliche Handwerksleute sogar Grabsteine entwendet hätten, um sie als Baumaterial einzusetzen. Und tatsächlich: Am Ende eines nur wenige Dezimeter breiten Seitenschachts fällt der Lichtkegel von Pia Heberers Taschenlampe auf eine Platte mit hebräischen Schriftzeichen. Ein nachträglicher Beweis für den schändlichen Diebstahl.

Friedhof Heiliger Sand: Rätsel aus der jüdischen Vergangenheit
Die unterirdische Inspektion ist Teil eines interdisziplinären Forschungsprojekts. Das Ziel: eine umfassende wissenschaftliche Dokumentation des Heiligen Sands. Pia Heberer vom Mainzer Landesamt für Denkmalpflege koordiniert das Vorhaben. Genauestens achtet sie auf den respektvollen Umgang mit dem Friedhof: Nichts darf in irgendeiner Form beschädigt oder gar entweiht werden.
"Dies ist der heiligste Ort des aschkenasischen Judentums", sagt der Judaist Michael Brocke vom Ludwig Salomon Steinheim-Institut für deutsch-jüdische Geschichte in Duisburg. Der Friedhof erfülle nach wie vor seine Funktion, die Bewahrung und Ehrung der Toten. Mehrere berühmte jüdische Persönlichkeiten fanden hier ihre letzte Ruhestätte. Bis zu 1400 Grabsteine könnte der Gottesacker zählen, der älteste datierbare stammt aus dem Jahr 1076. Manche fielen irgendwann um und sind heute von der Grasnarbe bedeckt. In fast alle Stelen wurden Texte eingraviert. Doch ihr Inhalt ist noch weitgehend unerforscht.
Erzählen die Grabsteine Geschichten aus der jüdischen Vergangenheit?
Für Brocke und seine Kollegen ist der Friedhof eine wahre Fundgrube. Allerdings hat der Zahn der Zeit vielen Grabsteinen schwer zugesetzt. Erosion zersetzt ihre Substanz. So zeigt sich auch Stein Nr. 1061 in einem eher desolaten Zustand. Das Schriftfeld wirkt ausradiert, seiner Botschaft beraubt. Im hellen Sommerlicht sind nur noch an den oberen und unteren Rändern Zeichen erkennbar. Vier Löcher verunstalten das Grabmal - Kugeleinschläge aus dem Pfälzischen Erbfolgekrieg, der 1689 auch in Worms heftig wütete.
Dieser Stein wird seine Geschichte nie mehr erzählen können, glaubt man zuerst. Aber die Lage ist nicht ganz so hoffnungslos. Dank eines neuen technischen Verfahrens lassen sich auch praktisch unsichtbare Schriftreste wieder erkennbar machen. Experten der Universität Heidelberg haben den Einsatz eines dreidimensionalen Streifenlicht-Scanners für die Erfassung der Wormser Grabinschriften erfolgreich an Stein Nr. 1061 getestet. Für viele der uralten Texte dürfte es die letzte Rettungsmöglichkeit sein.
Lichtstreifen-Projektion
Das Streifenlicht-Scanning ist ein ausgeklügeltes Zusammenspiel von einfacher Physik und modernster Computertechnologie: Feine, vertikale Lichtstreifen werden auf die Steinoberfläche projiziert und wandern langsam von links nach rechts. Dabei entsteht genau an der Grenze zwischen hell und dunkel eine sehr scharfe, das Relief darstellende Bildlinie. Während die Streifen über den Stein ziehen, machen zwei Digitalkameras, die sich jeweils links und rechts des Projektors befinden, pausenlos Aufnahmen. So werden alle entstehenden Bildlinien abgelichtet.
Im Rechner lassen sich diese später zu einer vollständigen Darstellung des Grabsteins zusammensetzen. Die beiden Kameras funktionieren bei dieser Methode ähnlich wie unsere Augen, erklärt die Mathematikerin Susanne Krömker vom Heidelberger Interdisziplinären Zentrum für Wissenschaftliches Rechnen (IWR). "Sie liefern von links und rechts unterschiedliche Bilder an das Gehirn, und Letzteres rechnet diese Information in ein Abschätzen der Tiefe um." Nach demselben Prinzip kalkuliert der Computer auch noch die geringsten Vertiefungen im Mikrometer-Bereich in der Steinoberfläche.
Denkmalschützern bietet die Scanningmethode gleich mehrere Vorteile: Einerseits werden die Grabsteine direkt an ihren Standorten aufgenommen, ohne irgendeine Beeinträchtigung, und gleichzeitig eröffnet sie bisher ungeahnte Möglichkeiten zur Entzifferung. So lassen sich die Darstellungen auf dem Bildschirm zum Beispiel mit virtuellen Lichtquellen ausleuchten. Die künstlichen Schattenwürfe zeigen sogar winzige Unebenheiten, und ein Experte wie Michael Brocke kann daraus oft schon den Aufbau eines Schriftzeichens erkennen. Ein weiterer Kniff: Mittels mathematischer Methodik können die Heidelberger Spezialisten exakt zwischen Resten von Schriftkerben und Erosionsspuren unterscheiden.
Millionen von Messpunkten
Krömker ist für das Sammeln und Verarbeiten der digitalen Datenströme aus Worms zuständig. Das betrifft nicht nur die Grabinschriften. Mitarbeiter des Geographischen Instituts der Universität Heidelberg haben das gesamte Friedhofsareal mit einem 360-Grad-Laserscanner erfasst, jeden einzelnen Stein, jeden Busch und das komplette Geländeprofil. Eine gewaltige Datenmenge. Die Geografen nahmen das Terrain aus vier verschiedenen Positionen auf, jeder diese Scanner-Standorte hat eine Punktwolke von knapp 20 Millionen einzelnen Messpunkten geliefert. "Eigentlich ist das viel zu viel", meint Krömker. Ihre Studenten arbeiten gerade daran, die ganze Vegetation herauszurechnen, um so ein klareres Bild der eigentlichen Friedhofsstruktur zu schaffen.
Doch bei aller Hightech: Die Faszination des Heiligen Sands erschließt sich erst dann richtig, wenn seine Grabinschriften Zeugnis ablegen. "Das sind wunderbare Texte, ganz individuell", schwärmt Michael Brocke. Sie nennen nicht nur die bestattete Person und beschreiben ihre Familienverhältnisse. Oft handeln sie vom guten, gelebten Leben der Lehrer, Dichter, Hebammen, Kantoren oder anderer Persönlichkeiten der Gemeinde. Und vom Leid.
So deutet das Grabmal des 1140 offenbar jung verstorbenen "Herrn Joel, Sohn des Herrn Me'ir - Frommer der Priesterschaft, Pflanzstätte von Märtyrern" auf das Massaker von 1096 hin, als marodierende Kreuzritter allein in Worms mindestens 400 Juden ermordeten.
Die Steine sprechen indes nicht nur durch ihre Inschriften. Die Heidelberger Kunsthistorikerin Leonie Silberer untersucht zusammen mit zwei Kollegen Ornamente und Gestaltungsformen der Grabmale, und die noch vorhandenen Spuren von Bearbeitungstechniken. "Letztlich ist es sehr interessant, wer die Steine hergestellt hat", sagt Silberer.
Hatten die von den Zünften ausgeschlossenen Juden eigene Handwerker, oder vergaben sie ihre Aufträge an Christen? Es gibt da einen interessanten Hinweis: Viele Schriftzeichen reichen am Zeilenende nur in den linken Rand der Textfelder hinein. Deshalb liegt die Vermutung nahe, dass der Bearbeiter beim Meißeln der Schreibrichtung des Hebräischen folgte. Christliche Steinmetze dürften dieser Sprache wohl kaum mächtig gewesen sein. Noch eine weitere Geschichte, die der Heilige Sand erzählt.