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Getarnte Waffen Marschflugkörper aus der Kiste

Ein neues russisches Raketensystem soll zur Geheimwaffe kleiner Staaten werden: Marschflugkörper, die direkt aus Seecontainern abgefeuert werden. Die Waffe könnte zu einer Bedrohung überlegener Militärmächte wie den USA werden - falls sie jemals funktioniert.

Das Video erinnert an die Werbung für ein Computer-Ballerspiel. Zwei Länder tauchen auf einer Landkarte auf, das eine rot, das andere blau. Panzer formieren sich, Kampfjets rollen auf ihre Startpositionen, Kriegsschiffe gehen in Stellung. Dass es sich um amerikanische Modelle handelt, ist kein Zufall. Denn was als nächstes geschieht, dürfte der Traum von Militärs mancher kleinerer Staaten sein, die sich von den USA bedroht fühlen.

Standard-Container werden auf ein Schiff, einen Eisenbahnwaggon und einen Lkw verfrachtet - eine Szene, die sich überall auf der Welt täglich Tausende Male abspielt. Doch die unauffälligen Kisten haben es in sich. Es ist eine gespenstische Szene: Innerhalb von Sekunden werden der Güterzug, das Containerschiff und der Lkw zu mobilen Startrampen. Die Oberseiten der zwölf Meter langen Container klappen hoch, und mit ihnen Abschussrohre für vier Marschflugkörper. Donnernd erheben sich die Geschosse in den Himmel. Wenig später sind die Panzer vernichtet, die Schiffe versenkt, die Kampfflugzeuge eingeäschert.

Das martialische Werbevideo für das System namens "Club-K" stammt vom staatseigenen russischen Rüstungskonzern Morinformsystem-Agat, und es sorgt inzwischen für einiges Aufsehen. Die britische Zeitung "Daily Telegraph" orakelte, das System könne die Kriegführung gegen kleine Staaten von Grund auf verändern. Die Nachrichtenagentur Reuters berichtete gar von einer "vernichtetenden Cruise Missile", die jedes Handelsschiff in die Lage versetze, "einen Flugzeugträger auszulöschen" - eine Behauptung, die nicht einmal der Hersteller wagt.

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Raketen aus der Kiste: Wie "Club-K" funktionieren soll

Foto: Concern Morinformsystem-Agat

Sie stammt offenbar von Robert Hewson, einem Mitarbeiter des Rüstungsfachblatts "Jane's Defense Weekly". Hewson sagte dem "Telegraph" auch, dass die Marschflugkörper aus der Kiste in Doha ausgerechnet jenen Ländern angeboten wurden, die "von den USA bedroht" seien. Iran und Venezuela, raunte die Zeitung, hätten bereits Interesse signalisiert.

Ein nicht ganz unwichtiges Detail blieb allerdings unerwähnt: "Club-K" existiert bisher nur im Video. Von einem erprobten und funktionierenden System, geschweige denn von einer Serienproduktion, kann keine Rede sein.

Ein funktionierendes System existiert nicht

Dass Hewson, wie Reuters schreibt, als Erster die Existenz des mobilen Marschflugkörper-Systems öffentlich machte, stimmt nicht ganz: "Club-K" wurde erstmals im Dezember 2009 auf der Luftfahrtmesse Lima in Malaysia präsentiert und war auch im März auf der Rüstungsmesse Dimdex in Doha zu sehen. Ein fertiges Produkt wurde dort allerdings nicht angeboten.

"Derzeit befindet sich 'Club-K' in der Erprobungsphase", sagte Jewgenij Nowikow, Direktor und Chefkonstrukteur von Morinformsystem-Agat, zu SPIEGEL ONLINE. "Einzelne Schlüsselelemente haben die Erprobung bereits durchlaufen." Testschüsse hätten allerdings noch nicht stattgefunden. Auf die Frage nach potentiellen Kunden antwortet Nowikow ausweichend: "Wir sind bereit, diesen Komplex jenen Ländern zu liefern, die ihre Souveränität bewahren wollen."

Doch selbst wenn das System eines Tages wie geplant funktionieren sollte: Längst nicht alle Experten sind von seiner Wirkung so überzeugt wie Hewson. Bei den Geschossen selbst handelt es sich um die lange bekannten russischen Marschflugkörper der Typenfamilien 3M-14 und 3M-54, letztere sind auch als SS-N-27 bekannt. Da sie - wie auch der amerikanische "Tomahawk"-Marschflugkörper - für universelle Abschussvorrichtungen wie etwa Torpedorohre des Kalibers 533 Millimeter gebaut wurden, halten Fachleute es für technisch durchaus machbar, sie direkt aus Seecontainern heraus zu starten.

Doch sollte "Club-K" tatsächlich an kleinere Staaten verkauft werden, gibt es eine Reihe beachtlicher Probleme. "Die beste Rakete ist nutzlos ohne Zielkoordinaten", sagt Sasche Lange von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) zu SPIEGEL ONLINE. Doch die Ortung feindlicher Ziele per Radar oder gar per Satellit ist technisch äußerst anspruchsvoll.

Hochkomplexe Raketentechnik - welche Probleme kleinen Staaten mit den Marschflugkörpern drohen

Hinzu kommt, dass die Reichweite der 3M-54-Geschosse mit maximal 300 Kilometern recht gering ist - eine "Tomahawk" reicht mehr als 1000 Kilometer weit. Auch können sie nur Sprengköpfe von 200 bis 450 Kilogramm Gewicht tragen. Otfried Nassauer vom Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (Bits) hält deshalb die im Werbevideo gezeigte Wirkung gegen Panzer und Gebäude für weit übertrieben.

Eine größere Gefahr sei ein solches Geschoss dagegen für Schiffe. Zwar gebe es Abwehrsysteme, die eine Chance böten, eine anfliegende Cruise Missile abzuschießen. "Aber es gehört Glück dazu", sagt Nassauer. Von einem sicheren Schutz vor Marschflugkörpern seien selbst moderne Kriegsschiffe weit entfernt. Hinzu kommt, dass eine der drei für "Club-K" geplanten Varianten des 3M-54-Marschflugkörpers eine spezielle Anti-Schiffs-Version ist. Sie besitzt zwar nur einen 200-Kilogramm-Sprengkopf, dafür aber eine dritte Antriebsstufe. Sie wird rund 60 Kilometer vor dem Ziel aktiviert und beschleunigt das Geschoss auf fast dreifache Schallgeschwindigkeit. Ein Abschuss wäre in dieser Phase extrem schwierig und die kinetische Energie beim Aufprall enorm.

Doch auch hier kommt wieder die Qualität der Zielerfassung ins Spiel: Feindliche Kriegsschiffe aus mehreren hundert Kilometern Entfernung zu orten, sei "nicht trivial", meint SWP-Experte Lange. Dass die Abschussrampen mobil sind, erschwert die Sache zusätzlich.

Robert Schmucker von der Technischen Universität München hält zudem für entscheidend, ob geschultes militärisches Personal zur Bedienung der hochkomplexen Raketentechnik zur Verfügung stehe. "Man muss solche Systeme nicht nur haben, man muss sie auch einsetzen können", sagte Schmucker zu SPIEGEL ONLINE. "Das erfordert neben dem Flugkörper und der Abschussanlage in der Regel zusätzliche Infrastruktur, zum Beispiel eine elektrische und hydraulische Energieversorgung, Ansteuerung und Programmierung des Systems mit Zielinformationen, Feuerleitung und Kontrolle." Soldaten müssten dafür intensiv ausgebildet werden, was nicht nur theoretische Übungen erfordert, sondern auch reale Abschüsse - "und zwar nicht nur mit einem oder nur wenigen Geräten", so Schmucker.

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Raketen aus der Kiste: Wie "Club-K" funktionieren soll

Foto: Concern Morinformsystem-Agat

Wie groß der Umfang an zusätzlichen Einrichtungen sei, erkenne man an der Größe und der Besatzung von Kriegsschiffen, die nur für den Abschuss von Marschflugkörpern konzipiert seien. "Und das Ganze soll dann lediglich durch ein Containerschiff ohne weitere Änderungen möglich sein?", so Schmucker. "Daran habe ich Zweifel."

Zu teuer und aufwendig für kleine Staaten?

Morinformsystem-Agat glaubt dennoch, das System an weniger gut betuchte Kunden verkaufen zu können. "Unser Ausgangspunkt war die Erkenntnis, dass bei weitem nicht alle Staaten die Möglichkeit haben, solch kostpielige Spielzeuge wie Überwasserkriegschiffe in ihren Flotten zu unterhalten", sagt Nowikow.

SWP-Mann Lange aber hält es dagegen für wenig wahrscheinlich, dass ein Staat mit begrenzten Mitteln einen geschätzten Preis von 10 bis 20 Millionen Dollar für vier Sprengköpfe bezahlen würde, von denen nicht einmal sicher sei, ob sie ihre Ziele treffen. "Unter dem Strich wäre es für einen solchen Staat vermutlich wesentlich effektiver, für dieses Geld Bodentruppen auszurüsten oder Sprengfallen zu kaufen, wie es in einem asymmetrischen Konflikt üblich ist."

Die Erfahrungen aus den vergangenen Monaten lassen zumindest ahnen, wer Interesse an dem System haben könnte. Anfang April sagte Premierminister Wladimir Putin Venezuelas Präsident Hugo Chavez einen 2,2 Milliarden-Dollar-Kredit für den Kauf russischer Waffen zu. Im Gespräch ist die Lieferung von 92 T-72-Panzern, zehn MiG-Kampfflugzeugen und mobilen Raketensystemen. Allerdings ist nicht bekannt, ob es sich dabei um "Club-K" handeln soll. Chavez gilt als derzeit lautester Erzfeind der USA, der auch schon mal behauptet, Washington habe Haiti mit einer Erdbebenwaffe beschossen.

Auch andere Staaten decken sich gern mit Erzeugnissen russischer Rüstungsbetriebe ein: Libyen, dessen Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi bis weit in die achtziger Jahre hinein Terrortrupps unterstütze, unterzeichnete Anfang Januar mit Russland einen 1,3-Milliarden-Dollar-Kontrakt über den Kauf russischer Jagdflugzeuge. Auch das iranische Regime wird in Russland als zahlungskräftiger Kunde geschätzt. Sogar der Kauf von russischen Luftabwehrraketen des Typs S-300 zum Schutz iranischer Atomanlagen vor Bombenangriffen war bereits besiegelt. Bislang aber hat Russland die auch von westlichen Militärs gefürchteten Hightech-Waffen noch nicht geliefert - aus Rücksicht auf Washington und Israel.

"Ihre Familien sollen das Meer genießen"

Russland ist inzwischen nach den USA der zweitgrößte Waffenexporteur der Welt. Im vergangenen Jahr verkaufte Moskau Rüstungsgüter im Wert von 8,5 Milliarden Dollar.

Verteidigungsexperten des Landes versuchen, die Befürchtungen des Auslands zu zerstreuen. "Unser Land hat nicht die Absicht, die globale Sicherheit zu destabilisieren", sagt Igor Korotschenko, Chefredakteur des russischen Fachmagazins "Nationale Verteidigung". "Iran wird in der nächsten Zeit von uns ganz sicher weder die S-300, noch die 'Club-K' bekommen. Mehr noch, dieser neue Raketenkomplex ist zu allererst für Länder mit langer Küstenlinie gedacht, zum Beispiel in Südostasien." Wenn sich jemand in den USA Sorgen über "Club-K" machen müsse, dann höchstens die amerikanische Rüstungsindustrie, der ein ernstzunehmender Konkurrent erwachse.

Den eigenen Kunden will Morinformsystem-Agat dagegen die Sorgen nehmen. In der Selbstbeschreibung des Unternehmens heißt es: "Wir geben alles, damit die Kriegsmarine Ihres Staates Bedingungen schafft, unter denen Ihre Familien das Meer genießen können - und keine Bedrohung von dort fürchten müssen."

Update, 30. April 2010: Morinformsystem-Agat hat auf als Reaktion auf die internationale Berichterstattung eine bemerkenswerte Videobotschaft  veröffentlicht.

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