
Gotische Kirchen: Die Lichtpaläste Gottes
Kirchen der Gotik Schimmer der Ewigkeit
Licht! Diese Kirche braucht mehr Licht! Wie soll man es aushalten in dieser Düsternis. Zentimeter für Zentimeter schieben sich die Pilger voran, um am Ende, nach Stunden des Wartens, im Schummerlicht das Grab des Heiligen Dionysius zu küssen. Kaum Sonne dringt durch die Gemäuer, die Strahlen prallen ab am harten Gestein.
Die wenigen Fenster sind viel zu klein, um dieses Gotteshaus auszuleuchten, das einer karolingischen Festung gleicht: das Kloster Saint-Denis, ein paar Kilometer nördlich von Paris, eine der wichtigsten Abteien des Landes. Pippin, der Vater Karls des Großen, wurde hier beigesetzt; die gekrönten Häupter Frankreichs lassen sich hier bestatten. Auch die geheiligte Kriegsfahne des Heeres, die Oriflamme, lagert in dieser Trutzburg des Herrn. Aber wie kann man in dieser dumpfen Enge Gott ehren, ihn lobpreisen?
Ein neuer Bau muss her, davon ist Abt Suger überzeugt. Prachtvoller, glamouröser, erhabener als all die anderen Pilgerkirchen Frankreichs. Filigran soll die Kirche sein, aber auch gewaltig. Steil in den Himmel ragen soll sie und innen mystisch leuchten. Ein Lichtpalast Gottes! So stellt es sich Abt Suger vor.
Suger ist mächtig und eigenwillig wie kaum ein anderer Kleriker seiner Zeit. Nur er kann einen so revolutionären Plan anordnen: 1137 legt er den Grundstein für einen Neubau, der sein Kloster zum geistigen Zentrum der Île-de-France machen soll. Es ist ein mutiges, ja wahnsinniges Vorhaben, denn es bricht mit allem, was die Architektur bislang ausmacht - typisch für das Denken eines Ausnahmecharakters.
Lernen und Beten, Schule und Kirche
Geboren wird Suger 1081, ein Junge aus einer einfachen Familie. Mit zehn nimmt ihn die Schule der Abtei auf. Mönche ziehen ihn groß, mit Prinzen und Adeligen wächst er auf. Sein bester Freund ist der spätere König Ludwig VI. Das Leben im Kloster hat den immergleichen Takt: Lernen und Beten, Schule und Kirche.
Schon in jungen Jahren, schreibt Suger später, träumte er von einer anderen Abteikirche. Dieser romanische Bau mit seinen wuchtigen Wänden und den winzigen Lichtspalten lässt ihn als Kind nicht los: Die Kirche zieht ihn an, zugleich stößt sie ihn ab. Nun, als er das Amt hat, will er sie abreißen lassen, neu aufbauen und weit über Paris hinaus erstrahlen lassen. Suger ist ein epochaler Denker und ein umtriebiger Macher.
Als Propst in der Normandie lernt er erst einmal, effizient und zielstrebig zu arbeiten - Tugenden, die man einem tüchtigen Geschäftsmann zuschreiben würde. Abt Adam, der für ihn wie ein Vater ist, schickt ihn zur Kurie nach Rom und auf Konzilien. Sein Verhandlungsgeschick bei Königen und Fürsten, Kardinälen und Äbten macht ihn berühmt. Er ist gewitzt und unterhaltsam; Historiker vergleichen ihn später gar mit Richelieu, dem größten französischen Kirchendiplomaten aller Zeiten. 1122 kommt Suger an seinen Bestimmungsort: Er wird zum Abt von Saint-Denis gewählt.

In den ersten Jahren sichert er seine Macht und die des Klosters. Er kümmert sich weniger um Geistliches, mehr um das Handfeste. Suger bringt die Finanzen in Ordnung und holt Besitztümer zurück, die einmal der Abtei gehört haben, kauft Kelche, Goldbecher, Vasen. Den Altar umrahmt er mit Tafeln aus purem Gold.
Ein bisschen Show muss sein
Auf Schlichtheit und Demut gibt Suger nichts: "Jene, die uns kritisieren, wenden ein, dass es zum Feiern des Abendmahls allein einer reinen Seele, eines reinen Geistes und eines frommen Glaubens bedarf. Und auch wir sind der Ansicht, dass das wirklich das Allerwichtigste ist. Aber wir meinen, dass man Gott auch durch den äußeren Schmuck heiliger Gefäße dienen muss." Ein bisschen Show soll schon sein.
Das Geld, das Suger erwirtschaftet, gibt ihm die Unabhängigkeit, auch seine Kirche zu solch einem heiligen Gefäß zu formen. Niemand kann ihm in seinen Plan vom lichten Gotteshaus hineinreden. Er ruft Baumeister, Steinmetze, Maurer und Glasmaler; aus dem ganzen Land kommen sie nach Saint-Denis.
Suger, der Bauherr, hat sich nicht nur das Konzept ausgedacht, sondern feilt auch an den Details. Die Säulen, so notiert er später, sollten aus Rom kommen, "über das Mittelmeer, dann durch die englische See und den gewundenen Lauf der Seine". Der Plan erscheint zu tollkühn. Schließlich findet sich das passende Baumaterial nur 30 Kilometer entfernt: in einem Steinbruch bei Pontoise.
"Sooft die Säulen vom untersten Abhang mit zusammengeknoteten Seilen heraufgezogen wurden, schafften Einheimische und Nachbarn sie demütig weiter, Edle und Unedle, ihre Leiber, Ober- und Unterarme mit Tauen wie Zugtiere umschnürt. Wenn sie im Ort angekommen waren, legten Handwerker ihr Werkzeug beiseite und boten ihre Hilfe an." Alle, so heißt es in seinen Schriften, packen mit an, helfen, diesen Bau zu errichten, an dem alles prächtig sein soll, mit dem Suger protzen will, ein Gottestempel, der seinen Rang im Reich rühmt.
Die Stadt, die aus dem Himmel kommt
Nach drei Jahren wird die Westfassade eingeweiht. Auf den vergoldeten Bronzetürflügeln prangt die Inschrift: "Edel erstrahlt das Werk, doch das Werk, das edel erstrahlt, soll die Herzen erhellen, so dass sie durch wahre Lichter zum wahren Licht gelangen, wo Christus die wahre Tür ist."
Das aber war nur der Prolog. Noch fehlt das Licht. 1140 ordnet Suger den Neubau des Chores an. Ein himmlisches Jerusalem auf Erden, das ist seine Vision. Die Gläubigen sollen durch das Licht der Wahrheit zum ewigen Licht finden. "Die Stadt, die aus dem Himmel kommt, die Stadt aus Glas mit goldenen Straßen mit zwölf Toren, in der Mitte der Altar, die Himmelsstadt." So beschreibt es der Kirchenhistoriker Arnold Angenendt.
Das ewige Leben nach dem Tod ist das Ziel gläubiger Christen. Die Kirche mit ihrer Transzendenz des Lichts ist als Vorstufe gedacht; sie symbolisiert die Vorbereitung auf das, was kommt. Gottes Haus, so formuliert es Suger, soll ein Zwischenraum sein, eine Region des Universums, die "weder im Schlamm der Erde noch völlig in der Reinheit des Himmels existiert", in der der Gläubige durch die Gnade des Herrn "von dieser niedrigeren in jene höhere Welt versetzt werden kann."
Statt meterdicker Mauern entsteht ein schlankes Strukturwerk aus Stützpfeilern und Seitenstreben, in das riesige Fenster gesetzt werden, eine Konstruktion, die sich selbst trägt und ganz ohne Wände auskommt. Statt eines gewaltigen Tonnengewölbes wird ein filigranes Kreuzrippengewölbe gebaut. Statt wuchtig wirkt alles elegant.
Die Planung ist gewagt: Es gibt keinerlei Berechnungsgrundlagen, keine Formel, die die Statik des neuen Stils absichert. Niemand hat das je ausprobiert.
Kreuzrippengewölbe und Spitzbogen
Die Bauleute schuften und werkeln Winter und Sommer, drei Jahre und elf Monate lang. Dann steht der Palast, "getragen von zwölf Säulen, die zwölf Apostel repräsentierend, und im inneren Umgang von weiteren zwölf für die geringeren Propheten", wie der Bauherr schwärmt, "die ganze Kirche erglänzt in dem wunderbaren und ungebrochenen Licht der so heiligen Fenster".
Aus Tausenden von Einzelteilen wurden die Fenster zusammengesetzt wie ein überdimensionales Mosaik. Nur wer ganz nah herantritt, sieht das feine Geäst der Bleiruten, das die Saphirglasscheiben zusammenhält. Wenn die Sonnenstrahlen durch die Fenster fallen, erleuchtet das Gebäude in Rot, Blau, Grün, Gelb, Violett, Weiß. Ziehen Wolken auf, verdunkelt sich das Kircheninnere. So hüllt die göttliche Natur die Kirche in ein geheimnisvolles Farbenspiel.
In das gleißende Licht des Chores stellt Abt Suger den goldenen Reliquienschrein des Heiligen Dionysius, der bisher in der dunklen Krypta aufbewahrt wurde. Nun dominiert er das Zentrum des lichten Gotteshauses.
Etwas Großes ist hier entstanden, etwas völlig Neues, die Kombination von Kreuzrippengewölbe und Spitzbogen als Stilelement. Es ist die Geburtsstunde der Gotik.
Am zweiten Sonntag im Juni 1144 wird der Chor eingeweiht; die 20 Altäre des Kapellenkranzes werden eingesegnet. König und Königin, Erzbischöfe und Bischöfe kommen aus ganz Frankreich, aus Sens, Senlis, Soissons, Chartres, Reims, Beauvais. Alle sind überwältigt von der neuen Stätte des Gebets. Und bald beginnt im Land ein Wettstreit.
Arbeiten wie in einem Großunternehmen
Alle eifern Sugers Meisterwerk nach, alle wollen sie diesen neuen Stil für sich. Dieser zweite Sonntag im Juni 1144 hat "die Architektur eines Landes und einer Epoche vielleicht mehr geprägt als irgendein anderer Tag der Weltgeschichte", schreibt der französische Mediävist Jean Gimpel.
Bauherren und Architekten entwerfen Pläne für neue Gotteshäuser, Skizzen, die vor Selbstbewusstsein und Geltungsanspruch strotzen. Das wichtigste Gebot für jeden, der ins Team aus Spezialisten gerufen wird: strikte Geheimhaltung. Die Zimmermänner, Maurer, Steinmetzen, Schmiede und Glaser arbeiten wie in einem Großunternehmen. Die Aufgabenteilung organisiert der Bauherr mit seinen Planern.
Wer seine Arbeit erledigt hat, zieht weiter, zur nächsten Baustelle - und lernt dort das nächste streng gehütete Betriebsgeheimnis jener Bauwerke kennen, die nun den Himmel stürmen: Je gigantischer die Kathedrale, desto großartiger das Lob Gottes, rechtfertigen die Bischöfe ihr Streben. Zwischen 1050 und 1350 werden so in Frankreich 80 Kathedralen, 500 Kirchen und Zehntausende von Gemeindekirchen gebaut. Die prächtigsten entstehen in Sens, Chartres, Reims und Amiens.
Sens mit seinem Triforium: Auf dem schmalen, verdeckten Laufgang, einer Art Mittelgeschoss in den Seitenwänden der Kathedrale, die als erste rein gotische gilt, können Chorsänger sitzen und scheinbar aus dem Nichts zum Gotteslob ansetzen.

Chartres mit seinen Heiligenstatuen: Sie thronen am Königsportal der Kathedrale, diesem Koloss auf einem Hügel, und gehören zu den ersten Skulpturen des frühen Mittelalters, die mit der Vorstellung brechen, dass Statuen nur in der heidnischen Antike Kunst sein dürfen.
Reims mit seinen Maßfenstern: Anstelle eines einzelnen Fensters, das aus einem Stein geschlagen wird, fertigen die Steinmetzen Einzelteile in Serie an, die sie erst am Schluss zusammensetzen, eine architektonische Fließbandarbeit.
Amiens mit seinen Dimensionen: 42,30 Meter ist das Mittelschiff hoch, so hoch wie kein anderer Kirchenraum der Welt zu dieser Zeit.
Und dann Beauvais mit seiner Besessenheit: 48 Meter hoch spannen sich die kühnen Spitzbogenstellungen, ein neuer Rekord. Zwölf Jahre können die Baumeister ihn halten, dann, 1284, wird aus dem Triumph die größte Baukatastrophe jener Zeit: Das Gewölbe stürzt ein.
Der Baueifer greift weiter um sich
Der Höhenrausch war gestoppt, aber nicht der Baueifer. An vielen bedeutenden Orten Europas, keineswegs nur in Frankreich, wachsen die Gotteshäuser gen Himmel: in Canterbury, in Prag, in Wien, in Magdeburg, in Köln.
Dort am Rhein beginnen 1248 die Bauarbeiten. Gerhard von Rile, Architekt, Ingenieur und Mathematiker in einem, muss wissen: Die Vollendung wird er nicht erleben. Seine Vision ist zu gigantisch. Die meisten gotischen Kirchen haben drei Schiffe, er will fünf. Die Türme: 157 Meter hoch. Die Fensterflächen: 10.000 Quadratmeter groß. Ein Werk, geplant für die damals mächtigste Stadt in deutschen Landen, eine würdige Stätte für die Reliquien der Heiligen Drei Könige, eine Kirche so gewaltig wie keine zuvor. Mehr als 600 Jahre dauert es, bis der Kölner Dom tatsächlich fertig wird. Es ist die Krönung eines unvergleichlichen Bauwahns, zu dem der Abt von Saint-Denis den Grundstein gelegt hat.
Suger selbst kann den Glanz seiner Revolution nur kurz genießen. Drei Jahre nach der Chorweihe wird er nach Paris berufen. Es ist eine Beförderung in die höchste Politik: König Ludwig VII., der Sohn von Sugers Jugendfreund Ludwig VI., zieht nach Jerusalem. Während des Kreuzzugs soll der visionäre Abt das Land regieren.
Suger, der "Vater des Vaterlandes"
Suger, der Pragmatiker, kümmert sich um die Finanzen, stärkt die Macht des Königs, fördert Landwirtschaft und Handel. Als er im Januar 1151 stirbt, nennen die Franzosen ihn den "Vater des Vaterlandes". In seiner Abtei wird er zu Grabe getragen, dort ruht er neben den Königen Frankreichs, wie er es gewünscht hatte.
Sein eigentliches Monument aber ist die Abteikirche von Saint-Denis. Damit das auch Jahrhunderte später niemand übersehen kann, hat sich Suger schon während der Bauzeit mit vielen kleinen Denkmälern in dem Prachtbau verewigt. 13 Inschriften sind erhalten, in denen er Gott und seinen Auftrag lobt.
Zu Ehren der Kirche, die ihn nährte und beflügelte, hat Suger gearbeitet.
Dir gebend, was Dir zustand, Märtyrer von Saint-Denis.
Er betet, dass er durch Dein Gebet teilhat am Paradies.
Im Jahre des Wortes Eintausendein-hundertvierzig wurde sie eingesegnet.
So steht es an der Westfassade von Saint-Denis. Mehrere Male taucht in den Glasfenstern und Skulpturen Sugers Ebenbild auf. Der barfüßige Abt zwischen dem Engel der Verkündigung und der Mutter Gottes, der Abt zu Füßen des Weltherrschers Jesus Christus. Auf einem Bild kniet Suger in einem grünen Gewand, in der Hand sein Erkennungszeichen - ein lichtdurchflutetes Kirchenfenster.