
Higgs-Boson: Jagd auf das Gottesteilchen
Higgs-Boson Neues Rätsel um das Gottesteilchen
Ohne das Higgs-Boson wäre das Universum, so wie wir es kennen, kaum vorstellbar: Das mysteriöse Teilchen verleiht aller anderen Materie ihre Masse. Erst sie sorgt dafür, dass Galaxien, Sterne, Planeten und Menschen existieren können. Das Higgs-Boson ist damit sprichwörtlich das, was die Welt im Innersten zusammenhält - falls die gängige Theorie stimmt und das sogenannte Gottesteilchen überhaupt existiert.
Die Zweifel daran wachsen derzeit. Denn noch immer hat man keinen Nachweis für das Higgs-Boson gefunden. Frisch veröffentlichte Daten des Genfer Kernforschungszentrums Cern schließen jetzt einen weiteren großen Massebereich aus, in dem das Gottesteilchen bislang vermutet wurde. Zwischen 145 und 466 Gigaelektronenvolt (GeV) kann es mit 95-prozentiger Wahrscheinlichkeit nicht existieren, haben Teilchenphysiker auf einer Konferenz in Mumbai berichtet.
Der Bereich unterhalb von 115 GeV war bei früheren Experimenten am Cern bereits ausgeschlossen worden. Nun verbleibt wahrscheinlich nur noch das Intervall von 115 bis 145 GeV. Noch im Juli sah es so aus, als habe man die ersten Spuren des Higgs-Teilchens im Bereich von 130 bis 145 GeV nachgewiesen. Doch inzwischen haben Forscher immer mehr Daten von Kollisionen gesammelt - und die Spuren haben sich als falsch erwiesen.
Die Wissenschaftler am Genfer Large-Hadron-Collider-Beschleuniger (LHC) bleiben jedoch optimistisch, dass sie schon bald einen Fahndungserfolg melden können: "Eine Entdeckung innerhalb der kommenden zwölf Monate ist fast sicher", sagt Sergio Bertolucci, Forschungsdirektor am Cern. "Wenn das Higgs-Boson existiert, werden wir es bei den Experimenten am LHC bald finden." Sollte das Teilchen nicht nachgewiesen werden, dann ergäbe sich daraus der Weg in eine neue Physik.
Ralf Bernhard von der Universität Freiburg ist von den jüngsten Daten aus Genf nicht sonderlich überrascht: "Wir werden weiter nach dem Higgs-Boson suchen, da das Standardmodell der Teilchenphysik sowieso ein leichtes Higgs-Boson um die 115 GeV bevorzugt." Man werde nun mehr Gewicht auf diesen unteren Massebereich legen.
Margaret Thatcher und das Higgs-Feld
Die Suche ist dadurch tendenziell schwieriger geworden, betont er, weil Hintergrundsignale gerade im leichten Higgs-Massebereich schwieriger vom eigentlichen Signal zu trennen sind. "Mit geringerer Energie sinkt die Nachweiswahrscheinlichkeit", ergänzt Wolfgang Mader von der TU Dresden, der eine Detektorkomponente am "Atlas"-Experiment am LHC betreut. Aber mit immer mehr Daten werde man den Massenbereich des Higgs-Bosons kontinuierlich einschränken. "Natürlich wäre es ein großartiger Erfolg, wenn wir am LHC das Higgs-Boson, so wie es im Standardmodell vorhergesagt wird, entdecken würden", sagt der Physiker.
Was hinter dem Higgs-Mechanismus steckt, hat der Londoner Physiker David Miller mit seinem Cocktailparty-Gleichnis veranschaulicht. Die Teilnehmer einer politischen Feier sind gleichmäßig im Raum verteilt. Plötzlich kommt Margaret Thatcher herein. Sie läuft durch die Menge, sofort bildet sich eine Traube um sie. Sie kann den Raum nicht einfach so durchqueren wie ein Photon, denn Thatcher hat eine große Masse. Wenn sie weiterläuft, treten Partyteilnehmer, denen sie sich nähert, auf sie zu. Andere, von denen sie sich entfernt, wenden sich von ihr ab und wieder ihren ursprünglichen Gesprächspartnern zu.
Der Higgs-Mechanismus ist nichts anderes als ein Hintergrundfeld, das erfunden wird, um Teilchen Masse zu verleihen. Bewegen sich die Teilchen durch das Feld, wird das Feld um sie herum verzerrt.
Das Unerwartete lockt
Zurück zum Cocktailparty-Gleichnis: Warum aber wenden sich Menschen der Ex-Premierministerin zu? Weil sie von ihrem Nebenmann gesagt bekommen: "Guck mal, wer da gekommen ist." Es ist das Getuschel, das die Zusammenballung auslöst. Es verleiht Margaret Thatcher Masse - und so gesehen ist das Getuschel im Raum nichts anderes als das gesuchte Higgs-Boson. Es wandert durch den Raum - als Zusammenballung von Menschen, und mittendrin ist die Ex-Premierministerin.
Aber was geschieht, wenn die Suche am LHC tatsächlich ohne Nachweis des Gottesteilchens endet? Der Dresdner Physiker Mader würde sich sogar darüber freuen: "Ich persönlich finde es viel spannender, etwas völlig Unerwartetes zu finden." Ganz ähnlich sieht das Stefan Söldner-Rembold, der am Fermilab nahe Chicago am Tevatron-Beschleuniger forscht. "Für alle Wissenschaftler ist es immer am aufregendsten, etwas Neues und Unerwartetes zu entdecken", sagt er. Wenn das Higgs-Teilchen nicht existiert, müsste ein anderer Mechanismus seine Rolle übernehmen. "Das könnte die Tür für neue Phänomene öffnen, die wir noch nicht kennen."
Auf den Fall der Fälle sind die Forscher durchaus vorbereitet. "Theoretiker sind sehr produktiv. Für viele Szenarien gibt es bereits Modelle", sagt Söldner-Rembold. Eines könnte die sogenannte Supersymmetrie sein. "Im einfachsten Fall gibt es dann nicht eins, sondern fünf Higgs-Bosonen", erklärt der Physiker. Diese hätten dann jedoch andere Eigenschaften als das eine Gottesteilchen, nach dem derzeit am LHC intensiv gefahndet wird.
Denkbar sind aber auch Modelle mit zusätzlichen Dimensionen, die aus der Stringtheorie kommen. "Diese Extradimensionen spielen in der makroskopischen Welt, wie wir sie kennen, keine Rolle, im Bereich mikroskopischer Teilchen sind sie jedoch wichtig", betont Söldner-Rembold. Cern-Forschungsdirektor Bertolucci bringt es auf den Punkt: "Dies sind aufregende Zeiten für die Teilchenphysik."