Katastrophenhilfe aus dem Weltraum Blick in die Bebenzone

Satellitenbilder: Katastrophenhilfe von oben
Als der Alarm gegen zwei Uhr morgens Stephen Clandillon im elsässischen Illkirch aus dem Schlaf schreckte, lag das Erdbeben, das Haitis Hauptstadt Port-au-Prince verwüstet hatte, nur wenige Stunden zurück.
Der Notruf kam von der französischen Zivilschutzzentrale, die als erste das Ausmaß der massiven Zerstörungen in dem Karibikstaat richtig eingeschätzt hatte. Sie mobilisierte Clandillon, den diensthabenden Wissenschaftler am Institut für Bildbearbeitung und Fernerkennung (Sertit) in Straßburg. Schon in den frühen Morgenstunden am Mittwoch hatte der gebürtige Ire ein Team von fünf Experten zusammengetrommelt, die Satellitenbilder, Digitalaufnahmen und gespeichertes Kartenmaterial sichteten; wenig später saß die gesamte Equipe in dem Hightech-Bau am Stadtrand von Straßburg vor Computerschirmen und Messdaten.
Die Aufgabe des Teams aus knapp 20 Fachleuten - Geologen, Physikern, Biologen, Stadtplanern und Informatikern -, das anschließend fast rund um die Uhr im Einsatz war: Die Aufbereitung von Satellitenaufnahmen für den Einsatz der Rettungskräfte. "Unsere Analysen erlaubten eine erste Einschätzung der Katastrophe", sagt Sertit-Direktor Paul de Fraipont. "Und damit versorgen wir die - beinahe immer landesfremden - Einsatzkräften mit möglichst präzisen Karten."
Erste Lagezeichnungen innerhalb von 24 Stunden
Im Notfall Haiti gelang es bereits binnen 24 Stunden, die ersten Lagezeichnungen zu produzieren. Dank der Koordinaten aus dem Elsass konnten die eingeflogenen Feuerwehrleute, die Mediziner und technischen Helfer mit einem herkömmlichen GPS-Gerät erkennen, wie die Katastrophenlogistik zu steuern war: Wo ist Platz für ein Feldlazarett, welche Brücken sind passierbar, sind Straßen blockiert und Landepisten beschädigt?
Hinter der Hilfe aus dem All steht eine internationale Organisation: Seit dem Jahr 2000 existiert die Charta für Weltraum und Großkatastrophen - ein Zusammenschluss von 19 Raumfahrtagenturen, der durch unbürokratischen Datenaustausch in Notfällen aktuelles Kartenmaterial bereitstellen soll. Einzige Voraussetzung für die Mitgliedschaft: Die beteiligten Nationen müssen in der Lage sein, Informationen in das Netzwerk einzuspeisen.
Im Gegenzug dürfen die Zivilschutzbehörden der Länder bei Sturmfluten, Vulkanausbrüchen oder Umweltkatastrophen die Hilfe anfordern: Schnell umprogrammierte Satelliten nehmen dann umgehend die betroffene Region ins Visier. "Bis zu 50 Mal jährlich gehen derartige Anfragen ein", sagt André Husson, Frankreichs Vertreter im weltweiten Notfall-Verbund. "Wir waren etwa aktiv bei den Erdbeben in China 2007 oder in Kaschmir 2005, aber auch bei den Waldbränden in Kalifornien oder Australien. Natürlich halfen wir auch während der Tsunami-Katastrophe vom Dezember 2004."
Weil nach dem Beben auf Haiti Frankreich den Alarm ausgelöst hatte - noch bevor die Vereinten Nationen, Kanada und die USA um kartografischen Beistand baten -, wurde der Einsatz aus dem All von der französischen Weltraumbehörde CNES in Toulouse gesteuert. "Unsere Aufgabe war es, im Kontakt mit den Rettern unser Material den Bedürfnissen vor Ort anzupassen", sagt Delphine Fontanaz, die als Projektmanagerin für Haiti zwei Wochen lang die Koordination leitete.
Und wie beim Tsunami im Indischen Ozean sorgte auch das Erdbeben auf der Karibikinsel für spontane Solidarität. Schon nach der ersten Nacht gelang es, mit dem japanischen Satelliten "Alos" erste Aufnahmen von der Region um das Epizentrum zu übermitteln, wenn auch nur in einer Auflösung von zehn Metern pro Bildpunkt. Damit waren Schäden an großen Hotels, Kraftwerken und dem Präsidentenpalast erkennbar. Für detaillierte Informationen bedurfte es aber besserer Bilder.
Datenflut aus dem All - wie Experten Satellitenbilder in brauchbare Informationen für Helfer am Boden verwandeln

Satellitenbilder: Katastrophenhilfe von oben
Dazu traten europäische Agenturen wie die von EU und Esa gegründete GMES (Global Monitoring for Environment and Security) und Infoterre in Aktion, um die optischen Teleskope und Infrarotgeräte auf das Bebengebiet zu lenken. Bald schon lieferten ein ganzes Dutzend Satelliten - darunter "Spot", "Envisat", "Terra-Sar-X" und die chinesischen "HJ-I-A/R" - Aufnahmen. Der US-Trabant "GeoEye" übermittelte gar Daten von einer Qualität, über die sonst nur militärische Spionagesatelliten verfügen. Auf den Fotos sind einzelne Menschen und Zerstörungen in verstörenden Details erkennbar: eingestürzten Bögen der Kathedrale von Port-au-Prince, zerborstene Kaianlagen und eine Ölspur im Hafen, Folge einer gebrochenen Pipeline.
Daten waren damit reichlich vorhanden - doch für die praktische Anwendung am Boden muss die Informationsflut aufgearbeitet werden. "Wir knipsen nicht einfach Weltraumfotos nach der Art von Google Earth", erklärt Sertit-Chef de Fraipont. "Wir liefern punktgenaue Bestandsaufnahmen vom Stand der Zerstörungen."
Dazu legen die Experten des Straßburger Teams bestehende Karten mit den aktuellen Projektionen digital übereinander, wie bei einer Schichttorte. Das Material wird dann je nach Bedarf mit Erklärungen und Informationen vernetzt. So lieferte das Sertit-Team Karten über Gebäudeschäden, Sammelplätze der Flüchtlinge und konnte sogar aufzeigen, wo in und um Port-au-Prince Platz für Anlagen zur Wasseraufbereitung verfügbar war: "Auf der Karte, entsprechend eingefärbt und ergänzt", sagt Clandillon, "sind private Pools, Schwimmbäder, Teiche und kleine Flüsse verzeichnet."
Feinarbeit unter Hochdruck
Um solche Informationen herzustellen, bedarf es freilich wissenschaftlicher Expertise und Erfahrung. "Die Satellitenaufnahmen müssen eingenordet und per Computer optisch zurechtgerückt werden", erklärt der Geograf Fraipont. "Zudem ist die Erde nicht rund wie ein Fußball, und schließlich müssen auch die lokalen Erhebungen mit in die Berechnungen eingehen. Obendrein muss die Arbeit schnell erfolgen. Denn anders als bei Orkanen, Überflutungen oder Großbränden gibt es bei Erdbeben keine Vorwarnzeit."
Geholfen habe die traurige Tatsache, dass Haiti im vergangenen Jahr von zwei Wirbelstürmen heimgesucht wurde. "Wir verfügten damit nicht nur über einen bestehenden Datensatz", so der Franzose. "Unsere Leute waren auch schon mit dem Terrain vertraut. Für die konkrete Interpretation der Schäden war das ein enormer Vorteil."
Die Experten aus dem Elsass konnten dabei allerdings auch auf die Unterstützung ihrer deutschen Kollegen in Oberpfaffenhofen bei München zählen. Die Fachleute vom Zentrum für satellitengestützte Kriseninformation (ZKI), das zum Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt gehört, übernahmen gleich in der ersten Phase die Ausarbeitung bereits bestehenden Kartenmaterials. Sie lieferten die geografische Unterlage für die Satellitenkarten: Straßen, Plätze und andere bauliche Merkmale, Flughafenpisten, Hafen- und Kaianlagen.
Zusammenarbeit über Grenzen hinweg
In der zweiten Phase, als die Weltraumaufklärer auch die Katastrophenauswertung der Region rund um Haitis Hauptstadt übernahmen, wurde die Arbeit geografisch aufgeteilt zwischen den ZKI-Fachleuten in München und den Sertit-Experten im Elsass. "Eine enorme Zeitersparnis", sagt CNES-Projektmanagerin Fontanaz. "Die Kooperation mit den Deutschen hat sich blendend bewährt."
Die funktioniert freilich nicht nur in Krisenfällen; auch bei Alltagsprojekten in Klimaforschung oder Umweltschutz wird die wissenschaftliche Zusammenarbeit längst durch internationale Netzwerke gefördert. Wertvolle Unterstützung für den Notfalleinsatz im Charta-Verbund erhoffen sich die Franzosen vor allem durch den Einsatz von zwei zusätzlichen Satelliten des Typs "Plaiade", die möglicherweise schon im Lauf der nächsten zwölf Monate im All stationiert werden. Dank beweglicher Teleskope können die Katastrophenregionen dann aus verschiedenen Winkeln aufgenommen werden. "Für unsere Arbeit", hofft Sertit-Chef Frapoint, "wird das ein Quantensprung."
Und der Katastropheneinsatz reißt nicht ab. Seit dem Erdbeben in Haiti gingen drei weitere Notrufe bei der "Charta" ein: Gemeldet wurden eine Springflut im Gaza-Streifen sowie Überflutungen in Bolivien und Peru, bei denen Dutzende Menschen starben.