Kernenergie in Frankreich Atomkraft - ja, bitte

Die meisten Franzosen lieben die Kernkraft - trotz Tschernobyl und Fukushima. Daran wird auch der Unfall in der Atomanlage Marcoule kaum etwas ändern, bei dem ein Arbeiter starb. Die Kontakte zwischen Stromwirtschaft und Politik sind eng, selbst Sozialisten und Kommunisten sind auf Pro-Nuklear-Kurs.
Von Annika Joeres
Kernenergie in Frankreich: Atomkraft - ja, bitte

Kernenergie in Frankreich: Atomkraft - ja, bitte

Foto: JACQUES WILLOCQ/ dpa

Als die radioaktiven Abfälle auf den Castor im südfranzösischen Cadarache verladen wurden, saßen Dutzende Familien auf dem Rasen und picknickten ihr Mittagssandwich. Wenige Stunden später, am frühen Abend im Dezember 2010, rollte der Zug ungehindert in Richtung Mecklenburg-Vorpommern. In Cadarache fanden sich nur drei junge deutsche Anti-Atom-Aktivisten ein, die fassungslos den strahlenden Waggons nachblickten. Die schwarz vermummten Jugendlichen trauten sich nicht, die Gleise zu blockieren. "Der Zugführer rechnet nicht mit uns und fährt uns einfach um", sagte einer.

Ganz anders das Bild in Deutschland: Als der Castor 15 Stunden später die Bundesrepublik erreichte, stießen Hundertschaften der Polizei auf Zehntausende aktionsbereite Demonstranten, unzählige Atomkraftgegner versuchten, sich an die Gleise zu ketten.

Die Nachbarn Deutschland und Frankreich trennen in der Atomenergie Welten. Auch nach den Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima ist Frankreich mit seinen 59 Meilern noch immer das Atomland Nummer 1 in Europa. Kein Franzose kann der nuklearen Energie entkommen, von jedem Punkt der Republik ist das nächste AKW höchstens 200 Kilometer entfernt. Doch Katastrophen wie in Japan oder nun die Explosion auf dem Gelände der südfranzösischen Atomanlage Marcoule erschüttern die Franzosen kaum. Dabei war am Montag ein Arbeiter verbrannt, vier weitere Menschen wurden verletzt. Die französische Atomaufsichtsbehörde ASN erklärte, Radioaktivität sei nicht ausgetreten.

Rugby ist wichtiger als Atomkraft

Während die Nachricht aus Marcoule am Montag deutsche Medien beschäftigte, waren vielen französischen Webseiten die Rugby-Weltmeisterschaft und interner Streit bei den Sozialisten wichtiger. Frankreich hat ein unerschütterliches Selbstbewusstsein, dass dem Land keine nukleare Katastrophe drohen kann. Wie damals bei Tschernobyl, als die radioaktive Wolke aus Russland offiziell an den französischen Grenzen gestoppt haben soll.

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Marcoule: Explosion in stillgelegter Atomanlage

Foto: JACQUES WILLOCQ/ dpa

Auch beim aktuellen Unfall in Marcoule halten sich die französischen Behörden sehr zurück, Informationen sickern nur langsam an die Öffentlichkeit. Schließlich wäre ein nuklearer Unfall wenige Monate vor den Präsidentschaftswahlen katastrophal für den bekennenden Atomfreund und Präsident Nicolas Sarkozy. Die Explosion in Marcoule sei kein "Atomunfall" gewesen, sondern lediglich ein "industrieller Zwischenfall", gab der Mitbetreiber von Marcoule, der Stromriese EDF, am Montagmittag an. Selbst die japanische Kraftwerksexplosion in Fukushima galt in Frankreich zunächst als "Naturkatastrophe", weil ein Erdbeben den Super-GAU verursacht hatte.

"In Frankeich ist Atomkraft ein unverrückbares Dogma", sagt Michèle Rivasi. Die grüne Europaabgeordnete und Biologin hat nach der Katastrophe von Tschernobyl das unabhängige nukleare Forschungsinstitut CRIIAD gegründet, um der medialen Übermacht der Atomkonzerne in Frankreich etwas entgegenzusetzen. Seitdem überwachen Messapparate im Wasser und in der Luft die radioaktive Belastung in Frankreich. "Für die Deutschen ist die Atomkraft eine Industrie, für die Franzosen eine Identitätsfrage", sagt Rivasi. Deshalb werde "entsetzlich gelogen und verschleiert."

Ökostrom spielt praktisch keine Rolle

Der französische Kraftwerkspark entstand historisch aus der französischen Verteidigungspolitik. Frankreich wollte sich nach dem Zweiten Weltkrieg zur Supermacht aufschwingen und auch nukleare Waffen produzieren. Noch heute ist das Land stolz darauf, als eine von offiziell fünf Mächten über Atombomben zu verfügen. Auch in der nuklearen Anlage in Marcoule hat die französische Armee Plutonium für französische Bomben bearbeitet. Und Präsident Sarkozy wiederholt stets, Frankreich müsse unabhängig bleiben - vom "Öl der arabischen Länder" und der Energie der Nachbarn. Und unabhängig ist für Sarkozy gleichbedeutend mit Atomkraft.

Alternative Energien spielen in Frankreich praktisch keine Rolle. Obwohl im Süden des Landes die Sonne doppelt so viele Stunden im Jahr scheint wie in einer durchschnittlichen deutschen Stadt, sind Solaranlagen sehr selten. Nach wie vor kommen 80 Prozent des Stroms aus Kernreaktoren.

Daran wird sich zunächst auch wenig ändern. Selbst die oppositionellen Sozialisten sind wenige Monate vor den Präsidentschaftswahlen noch uneins über ein mögliches Ausstiegsszenario. Denn ob konservativ, kommunistisch oder sozialistisch: Die politische Elite wird schon an der Universität stramm auf Pro-Atom-Kurs gebracht. Viele Spitzenpolitiker haben die "Ecoles des Mines" in Paris besucht, eine Kaderschmiede für Ingenieure in Politik und Wirtschaft, die ausnahmslos nuklearfreundliche Kurse gibt. Ihre Absolventen lenken die beiden mehrheitlich staatlichen Konzerne EDF und Areva, die sowohl am Bau der Anlage in Marcoule als auch im japanischen Fukushima beteiligt waren.

Nun hoffen die Gegner, der europäische Stresstest für Atomkraftwerke könnte zumindest einige französische Anlagen wie im grenznahen Fessenheim so teuer machen, dass sie aus finanziellen Gründen abgestellt werden. Und selbst im atomverliebten Frankreich wächst langsam die Gegnerschaft. Das Netzwerk "Sortir du nucléaire" konnte seine Unterstützerzahl nach Fukushima auf 50.000 verdoppeln. "Wir schauen neidisch auf die erfolgreichen deutschen Aktivisten", sagt Sprecherin Charlotte Mijeon. Aber glücklicherweise drehe sich auch in Frankreich der Wind.

Zumindest die betroffenen Anwohner von Marcoule sind inzwischen ängstlich: Nach einer Online-Umfrage der örtlichen Zeitung "La Provence" fürchten 69 Prozent der Leser nach der Explosion "weitere nukleare Vorkommnisse".

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