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Atomkraftwerke: Angst vor brüchigen Reaktorkesseln

Foto: A3417 Ulrich Perrey/ dpa

Längere AKW-Laufzeiten Forscher warnen vor porösen Altmeilern

Wissenschaftler kritisieren die von Schwarz-Gelb geplante Laufzeitverlängerung für ältere Atomkraftwerke. Neueste Berechnungen zeigen: Einige Meiler könnten gravierende Konstruktionsmängel am Reaktorkessel haben. Es bestehe die Gefahr von Rissen, warnen die Experten.

Mitten in Österreich liegt das größte Groschengrab des Landes: das Atomkraftwerk Zwentendorf. 1972 begannen die Bauarbeiten, sechs Jahre später verhinderte eine Volksabstimmung die Inbetriebnahme des Meilers. Seitdem besitzt Österreich eine gigantische Investitionsruine.

Einer der Gründe für die Ablehnung: Der Reaktordruckbehälter, das zentrale Bauteil des Kraftwerks mit den Kernbrennstäben im Innern, soll Konstruktionsmängel aufweisen. So befinden sich Schweißnähte an Stellen, an denen der Behälter besonders starken Belastungen standhalten muss. Das ist nach österreichischem Recht selbst bei normalen Dampfkesseln verboten. Aus gutem Grund: Würde der Druckbehälter eines Atomreaktors bersten, wären die Folgen katastrophal (siehe Kasten links).

Atomkraftwerke

Das AKW Zwentendorf ging zur Erleichterung von Experten nie ans Netz, doch in Deutschland sind gleich mehrere weitgehend baugleiche in Betrieb - und das seit Jahrzehnten. Die Siedewasserreaktoren  in Brunsbüttel, Krümmel, Philippsburg 1, Isar 1 stammen aus der sogenannten Baulinie 69 - und besitzen damit den gleichen Reaktordruckbehälter, der auch in Zwentendorf zum Einsatz kommen sollte.

Manfred Zehn, Professor an der Technischen Universität Berlin, hat jetzt mit modernen Methoden die Zweifel an der Sicherheit der Reaktorkessel  überprüft - und sie nach eigenen Angaben bestätigt. "Dieser Reaktordruckbehälter ist eine Konstruktion mit Problemzone", sagt Zehn, Leiter des Fachgebiets für Strukturmechanik und Strukturberechnung, im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE.

"An der Grenze des Zulässigen"

Am Computer hat Zehn die Belastungen am Reaktordruckbehälter simuliert. In die Rechnungen flossen Baumaterial, Geometrie und Druckverhältnisse der Behälter ein. Das Ergebnis bereitet ihm und anderen Fachleuten nun Sorgen. Vor allem die Schweißnaht am Boden des Reaktordruckbehälters gibt den Experten zu denken: "Ich war überrascht, dass im Bereich der Schweißnaht so große Spannungen auftreten", sagt Zehn. "Sie gehen an die Grenze des Zulässigen."

Der Biegebereich von Druckkesseln gerät bei großen Belastungen in Bewegung. Je öfter das vorkommt, desto mehr büßt das Material an Elastizität ein. Deshalb seien an solchen Stellen aus Sicherheitsgründen bei Druckkesseln üblicherweise keine Schweißnähte zu finden, erklärt Zehn. Die Sorgen vor Rissen an diesen Stellen hält er für "berechtigt".

Hinzu kommt, dass die Bodenschweißnaht nicht die einzige potentielle Schwachstelle des Reaktorkessels sein könnte. Auch am verwendeten Stahl wurde immer wieder Kritik laut: Das Material geriet in Verdacht, aufgrund seiner chemischen Zusammensetzung zu schnell spröde zu werden. Zum Schutz vor Korrosion ist der Kessel im Inneren mit einer Plattierung - einer zusätzlichen Stahlschicht - versehen. "Ich würde Haarrisse in dieser Plattierung nicht ausschließen", sagt Wolfgang Kromp, Leiter des Instituts für Sicherheits- und Risikowissenschaft der Wiener Universität für Bodenkultur.

"Das wäre ein Unfall von den Ausmaßen Tschernobyls"

Die Fachleute befürchten außerdem, dass die Gefahr einer Katastrophe steigen könnte, sollte die Laufzeit der alten AKW - wie von der Berliner Regierungskoalition geplant - verlängert werden. Denn die andauernde Beanspruchung des Materials seit den siebziger Jahren hat das Risiko womöglich vergrößert.

Das Wasser im Inneren des Reaktordruckbehälters dient sowohl als Kühlmittel für die Brennstäbe als auch als Moderator für die nukleare Kettenreaktion. Es ist fast 300 Grad heiß und steht unter einem Druck von 70 Bar, allerdings nicht kontinuierlich. Bei einer Abschaltung des Reaktors, etwa durch einen Störfall, wird der Kessel durch das Sinken der Temperatur thermisch stark belastet. "Während der Lebensdauer eines Reaktors kommt es zu vielen hundert Belastungswechseln", erläutert Kromp. Das Material könne so auf Dauer ermüden.

Der Alptraum von Werkstoffexperten ist, dass es zu einem sogenannten überkritischen Riss kommt, der spontan auftritt, sich blitzartig durchs Material frisst und ein großes Leck hinterlässt. Die Folgen wären infernalisch. Das knapp 300 Grad heiße Wasser würde sich in Sekundenbruchteilen in Dampf verwandeln und den tonnenschweren Druckbehälter womöglich "wie eine Rakete" nach oben schießen lassen, warnt Kromp. Teile des Reaktorgebäudes würden zerstört, zugleich käme es im Inneren des Behälters zur Kernschmelze, weil das Wasser zur Kühlung fehlte.

"Das wäre ein Unfall von den Ausmaßen Tschernobyls", sagt Kromp. "Gegen einen Bruch des Reaktorbehälters ist kein Kernkraftwerk der Welt geschützt." Auch deutsche Gerichte, wie etwa 1975 der Mannheimer Verwaltungsgerichtshof, warnten vor einer "Katastrophe nationalen Ausmaßes", sollte ein Reaktordruckbehälter platzen .

Risiko unbekannt

Ob ein solcher GAU in Wochen, Jahrzehnten oder nie auftreten wird, weiß niemand genau - denn eine Prüfung der betroffenen Schwachstellen ist technisch schwierig. Die AKW-Betreiber beteuern, dass es kein Problem gebe. Im AKW Isar 1 etwa werde der Reaktordruckbehälter im Beisein von unabhängigen Gutachtern und der Aufsichtsbehörde regelmäßig überprüft, erklärte die Betreiberfirma E.on Energie. Die Bodenschweißnaht des Kessels werde innerhalb von vier Jahren wiederholt geprüft. "Befunde traten niemals auf", erklärte ein Unternehmenssprecher.

EnBW  , verantwortlich für das AKW Philippsburg, führte ein 2010 erstelltes Gutachten einer nicht namentlich genannten Sachverständigenorganisation an. Das Ergebnis sei gewesen, dass die Spannungsgrenzen der Bodenschweißnaht "auch nach dem aktuell gültigen Regelwerk sicher eingehalten werden" und "ausreichende Sicherheitsreserven" bestünden. Die Schweißnaht werde mit Ultraschalltechnik alle vier Jahre geprüft. Abweichungen vom "spezifikationsgerechten Zustand" seien nie festgestellt worden - "und sind auch nicht zu erwarten". Umbaumaßnahmen "waren und sind daher nicht erforderlich", erklärte EnBW.

Auch Vattenfall  , Betreiber der Atomkraftwerke Krümmel und Brunsbüttel, hält die alten Meiler für sicher. "Die für den Reaktordruckbehälter spezifizierten Belastungen werden mit großen Reserven beherrscht", teilte das Unternehmen mit. "Im Hinblick auf Versprödung ist eine Betriebszeit weit oberhalb von 60 Jahren zulässig." Veränderungen an kritischen Stellen des Reaktorbehälters habe man bisher nicht festgestellt, die zulässigen Spannungen an der Bodenschweißnaht seien nicht überschritten worden.

Experten fordern neue Studien

Unabhängige Experten zeigen sich von den Erklärungen der Energiekonzerne wenig beeindruckt. Die Schwachstellen am Reaktordruckbehälter seien "kaum vollständig zu prüfen", meint Lars-Olov Höglund, der zehn Jahre lang Chefkonstrukteur der Atomkraftwerke des Vattenfall-Konzerns war. "Dafür müsste man den gesamten Reaktor auseinandernehmen." Wie wahrscheinlich ein Versagen des Druckbehälters sei, wisse niemand. Auch der Berliner Professor Zehn betont, dass der Kessel insbesondere von innen nicht zu kontrollieren sei.

Kritiker fordern aufgrund der neuen Erkenntnisse die sofortige Abschaltung der betroffenen AKW. Das drohende Versagen eines Reaktorkessels sei eine "exorbitante Gefahr", sagt Henrik Paulitz, Atomexperte der Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW). "Außerdem haben wir eine Überkapazität in der Produktion, wir exportieren Strom ins Ausland, wir produzieren Atommüll."

Eine sofortige Stilllegung der Baulinie-69-Reaktoren hält der Berliner Forscher Zehn zwar nicht für unmittelbar notwendig. Aber die Einberufung einer Expertenrunde und neue Studien seien "das Mindeste", was die AKW-Betreiber jetzt tun müssten. Ähnlich äußert sich der freiberufliche Prüfingenieur Wilfried Rindte: Insbesondere angesichts der anstehenden Laufzeitverlängerung der Reaktoren müsse geprüft werden, wie sicher die Meiler noch sind.

Für die Betreiberunternehmen könnte das unangenehm ausgehen. Denn ändern lässt sich die Konstruktion der Reaktordruckbehälter nicht. Sollte sich herausstellen, dass die Kessel mit den Jahren zu unsicher geworden sind, hält auch Zehn "die Stilllegung der Kraftwerke für die einzig mögliche Konsequenz".

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