Morsleben Als der Westen seinen Atommüll im Osten versenkte
Sekunden bevor der Fahrstuhl 380 Meter in die Tiefe rumpelt, schrillt eine Glocke, die schwere Tür fällt zu. Die 90-Sekunden-Fahrt hinterlässt Druck auf den Ohren und ein Kribbeln im Magen. Als sich die Tür wieder öffnet, ist die erste Sohle des DDR-Endlagers Morsleben in Sachsen-Anhalt erreicht.
Bergleute förderten hier Kali als Düngemittel und feinstes, verzehrfertiges Steinsalz, verkauft als "Sonnensalz" für den heimischen Salzstreuer, bis die DDR das Bergwerk in den Siebzigerjahren zum Lager für Atommüll machte.
Was dann passierte, zeigt, dass die Menschen in Ost und West nicht nur eine Mauer trennte - mit Folgen bis heute. Morsleben erzählt deutsch-deutsche Geschichte im Kleinen. Es geht um die auf den eigenen Vorteil bedachte Haltung des Westens gegenüber dem Osten, die Suche nach einer gesamtdeutschen Lösung und vor allem geht es um Gerechtigkeit.
"Die Ostzonalen richtig ärgern"
Mittlerweile lagern 36.754 Kubikmeter schwach- bis mittelradioaktive Abfälle in Morsleben, etwa 15 Olympische Schwimmbecken ließen sich damit füllen. Der strahlende Abfall stammt jedoch nicht allein aus der DDR, mehr als 60 Prozent gelangten erst nach 1993 in den Salzstock, ein Großteil kam aus westdeutschen Kernkraftwerken.
Dabei fürchtete die Bundesrepublik vor der Wende noch die nukleare Verseuchung durch das DDR-Endlager in unmittelbarer Grenznähe. Die Auswahl des ebenfalls grenznahen Gorlebens als Standort für ein West-Endlager soll eine Retourkutsche für Morsleben gewesen sein, "um die Ostzonalen richtig zu ärgern". So berichtete es der inzwischen verstorbene Geologe Gerd Lüttig. Er war in den Siebzigerjahren mit der Suche nach einem Endlager West betraut, Gorleben sei nicht seine erste Wahl gewesen.
Besonders groß war die Angst vor Morsleben im niedersächsischen Helmstedt, nur sieben Kilometer Luftlinie von Morsleben entfernt. Was "die da drüben machen", wisse doch "kein Mensch so ganz genau", kritisierte der damalige Stadtdirektor Lothar Wien Ende der Achtzigerjahre. Anwohner hatten Angst, ihr Grundwasser könnte verstrahlt werden.
"Spart die DDR bei der Sicherheit?", warnte auch der SPIEGEL 1987 . Die Rede war von "nicht beherrschbaren Wassermengen", die die Grube zum Absaufen bringen könnten. Tatsächlich bewahrheiteten sich die Warnungen. Allerdings keineswegs im Endlager der DDR, sondern in der Müllkippe des Westens, der Asse. (Mehr dazu lesen Sie hier .)
"Für einen Wessi schon erstaunlich"
Nach der Wende entpuppte sich Morsleben dagegen als weniger marode als befürchtet. "Auf den ersten Blick wirkte es für einen Wessi schon erstaunlich, dass man radioaktive Abfälle mit einem Traktor auf einem einfachen Hänger transportieren konnte", erinnert sich Henning Rösel an seinen ersten Besuch im Endlager nach der Wende. Als Leiter des Bundesamts für Strahlenschutz (BfS) trug er nach der Wiedervereinigung die Verantwortung für Morsleben. Auf den zweiten Blick entsprach Morsleben jedoch internationalen Vorgaben.
Dem Westen kam ein verlockender Gedanke.
Während das nun wiedervereinigte Deutschland andere Industrieanlagen der DDR als hoffnungslos überaltert und nicht wettbewerbsfähig abwickelte, sollte das Atommüll-Endlager bestehen bleiben. Die DDR-Betriebserlaubnis galt weiterhin. Zwischen 1994 und 1998 lagerte die Bundesrepublik in nur vier Jahren deutlich mehr ein als die DDR in 20 Jahren, und es sollte ursprünglich noch viel mehr werden.
Doch der Atomkraftprotest schwappte nach der Wiedervereinigung vom Westen in den Osten über. Fortan stritten Bundesregierung, Behörden, Umweltschützer und Gerichte um das Endlager - auch Kanzlerin Angela Merkel (CDU) spielte dabei eine entscheidende Rolle (Mehr dazu lesen Sie hier ).
1998 stoppte das Oberverwaltungsgericht Magdeburg schließlich die Einlagerung. Seitdem kamen keine neuen Fässer mehr nach Sachsen-Anhalt.
Nun soll das Endlager stillgelegt werden - mit dem Atommüll darin, sicher für die nächsten 100.000 Jahre. Kostenpunkt: Mindestens 1,2 Milliarden Euro. (Wie die Stilllegung ablaufen soll, sehen Sie im Video.)
Im Video: Ein Endlager wird stillgelegt
Torsten Kniep arbeitet seit 25 Jahren in Morsleben. Wenn der studierte Bergbauer zeigen will, warum sich Steinsalz zur Endlagerung eignet, sucht er in den untertage herumliegenden Gesteinshaufen nach dunkel verfärbten Salzbrocken und schlägt sie mit Wucht aneinander, sodass sie aufbrechen. Der Geruch von verfaulten Eiern macht sich breit.
"50 Millionen Jahre lang war der Schwefel sicher im Salz eingeschlossen", sagt der 55-Jährige und schiebt hinterher: "Wenn das kein geeignetes Gestein ist?" Tatsächlich hält Salz unheimlich dicht. Gase und gesättigte Flüssigkeiten können nicht entweichen. Und in Morsleben gibt es so viel Salz, dass die Luft danach schmeckt. Sie kratzt beim Einatmen im Hals und lässt jede noch so kleine Wunde schmerzhaft brennen. Das Salzgestein türmt sich bis zu 350 Meter hoch.
Salz hat allerdings einen entscheidenden Nachteil: Es löst sich auf, wenn es mit Wasser in Berührung kommt. Das ehemalige Bergwerk für die kommenden 100.000 Jahre sicher von Wasser abzuschirmen, ist extrem aufwendig.
Zudem hat der Bergbau das Gestein gefährlich durchlöchert und instabil gemacht. Die einzelnen Tunnel verbinden Dutzende Kammern, in denen Steinsalz abgebaut wurde - jede hundert Meter lang, 30 Meter hoch und ebenso breit. Wer in einer davon steht, befindet sich in einer Kathedrale aus glitzerndem Salzgestein. Weder Geräusche noch Licht dringen bis hierher durch.
"Eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe"
Anfang der Nullerjahre krachte in einer der Kammern tonnenweise Gestein von der Decke. Die Erschütterung ließ das Geschirr in den Schränken klappern, erzählen Anwohner. Spätestens da war klar: Es musste etwas passieren. Der Betreiber der Anlage, die Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE), ließ mehrere Kammern mit einem Gemisch aus Beton und Salz füllen. Für die Stilllegung sollen fast alle großen Hohlräume so stabilisiert werden. Trotzdem haftet an Morsleben noch immer der Ruf einer einsturzgefährdeten DDR-Atommüllkippe.
Das ärgert die Menschen über Tage.
"Wir übernehmen hier eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, ohne irgendeine Entschädigung zu bekommen", sagt Thomas Crackau. Der 53-Jährige ist Bürgermeister der Gemeinde Ingersleben, zu der auch Morsleben gehört. Nach der Wende habe niemand in dem kleinen Ort mit gut 300 Einwohnern wohnen wollen. Das Gebiet galt als verseucht. Dabei macht die gesamte Radioaktivität des Endlagers nur 0,05 Prozent des Inhalts eines Castors mit hochradioaktivem Müll aus.
Erst in den vergangenen zwei Jahren sind wieder junge Menschen nach Morsleben gezogen, weil die Braugrundstücke in den umliegenden Dörfern knapp und teuer geworden sind. Im Ortskern stehen brandneue Einfamilienhäuser im Bungalowstil - mit Blick auf das Endlager.
"Jeder kennt jemanden im Endlager"
Warum es kaum Widerstand gegen den Atommüll gibt? "Jeder kennt jemanden, der im Endlager arbeitet", sagt Crackau und zuckt mit den Schultern. "Das sind gut bezahlte Jobs." Schon zu DDR-Zeiten hätten alle gewusst, was in Morsleben gelagert wird. Groß gesprochen wurde darüber nicht. Was hätte Widerstand auch nützen sollen?
Morsleben lag nur wenige Kilometer von der innerdeutschen Grenze entfernt, alle Einwohner standen unter der ständigen Beobachtung der Staatsicherheit (Stasi). Hinzu kamen die Grenzposten alle paar Kilometer.

Morsleben: Zu Besuch im Endlager
Im nur wenige Kilometer entfernten Westen wehten dagegen "Atomkraft?-Nein-danke"-Fahnen, Bauern fuhren auf ihren Treckern durch halb Niedersachsen, um das Endlager in Gorleben zu verhindern, Atomkraftgegner gründeten die "Republik Freies Wendland".
Die unterschiedliche Protestkultur wirkt bis heute nach und droht die Morslebener nun zu benachteiligen. Während westdeutsche Gemeinden mit Atommülllagern Geld und politische Aufmerksamkeit bekommen, interessiert sich kaum jemand für das Endlager in Sachsen-Anhalt.
Eine Frage der Gerechtigkeit
"Auch wenn hier nicht jeden Tag gegen Atomkraft protestiert wird, steht Morsleben wie den Gemeinden von Asse und Schacht Konrad eine Entschädigung zu", fordert Bürgermeister Crackau. "Mit dem Geld könnten wir beispielsweise einen Fahrradweg zwischen den Gemeinden bauen." Der werde dringend gebraucht.
Morsleben liegt direkt an der A2. Wenn dort gebaut wird, führen die Ausgleichsstrecken durch die umliegenden Dörfer. "Da kommt keiner mehr von A nach B", sagt Crackau. Wie viel Geld für Morsleben herausspringen könnte, ist unklar. An Asse zahlt der Bund jedes Jahr rund drei Millionen Euro.
Dass ein großer Teil des strahlenden Abfalls in der Gemeinde aus dem Westen stammt, sei kein großes Thema, meint Crackau. Die meisten Morslebener sähen die Dinge pragmatisch: Der Müll ist nun mal da, und irgendwo müsse er ja hin. "Aber", und da erhebt Crackau die Stimme, "gerecht soll es schon zugehen."