SPIEGEL ONLINE

Neues Freihand-Fahrrad Die Masse macht's

Es rollt und rollt - Forscher haben ein fahrerloses Fahrrad konstruiert, das nicht umkippt. Es zeigt: Andere Effekte als bislang gedacht können ein Zweirad stabilisieren. Wichtig ist vor allem die Verteilung des Gewichts.

Ein Rad braucht niemanden, der es lenkt. Das weiß fast jeder Radfahrer, der schon mal die Hände vom Lenker genommen hat. Ein Rad kann sogar ganz ohne Fahrer große Strecken zurücklegen - vorausgesetzt es ist schnell genug unterwegs. So wie im Filmklassiker "Tatis Schützenfest" aus dem Jahr 1949 (siehe YouTube-Video ). Der achtlos an ein Auto gelehnte Drahtesel rollt zunächst ein ganzes Stück mit dem Auto mit, bevor es sich dann an einer Gabelung selbständig macht.

Jacques Tati hat sicher etwas nachgeholfen, damit das Rad sogar scheinbar von allein Straßenkurven gefolgt ist. Dass sich ein rollendes Velo selbst stabilisiert, ist freilich keine Überraschung - man kann es selbst ausprobieren. Die Erfahrung zeigt, dass dafür eine gewisse Mindestgeschwindigkeit nötig ist. Kommt das Rad in eine leichte Seitenlage, fährt es von selbst eine leichte Kurve, bis es sich gefangen hat und aufrecht weiterrollt.

Üblicherweise wird dieses Verhalten mit den Kreiselkräften erklärt. Kippt ein schnell rollendes Rad etwas zur Seite, dann neigt sich auch seine Rotationsachse. Um den Drehimpuls zu erhalten, führt das Vorderrad dann eine Bewegung aus wie ein Kreisel, dem man einen Stoß versetzt hat ( Präzessionsbewegung ) - Gabel und Lenker bewegen sich in die Richtung, in die das Rad gekippt ist. Statt umzukippen, fährt das Rad also eine leichte Kurve.

Neben der Präzession wird oft auch die Neigung der Vorderradgabel von etwa sieben Grad als zweite Begründung genannt. Sie führt zum sogenannten Nachlauf. Das Vorderrad dreht sich nämlich genau wie die Räder an einem Einkaufswagen immer automatisch in die Bewegungsrichtung des Drahtesels. Möglich wird dies, weil die virtuelle Verlängerung der Lenkerachse vor dem Kontaktpunkt des Vorderrades auf der Straße liegt - siehe Fotostrecke.

Fotostrecke

Stabilität ohne Fahrer: Der radelnde Holländer

Foto: Corbis

"Beide Mechanismen, die Kreiselkräfte und der Nachlauf, helfen, ein Rad zu stabilisieren", sagt Arend Schwab von der TU Delft. Man brauche sie aber nicht zwingend. "Wir haben ein Rad gebaut, dass sich auch ohne Kreiselkräfte und Nachlauf selbst stabilisiert."

Geschickt verteilte Gewichte

Dass es längere Strecken rollt, ohne umzukippen, verdankt das sogenannte Two-Mass-Skate (TMS) der speziellen Masseverteilung. Bei ihm reicht das Rahmenrohr, das vom Hinterrad zum Lenker führt, weit über den Lenker hinaus. Und am Ende dieses Rohres, also ein ganzes Stück vor und oberhalb des Vorderrades, befindet sich ein Metallgewicht. Ein zweites Gewicht ist an der Lenkerachse befestigt.

Mit ihrer im Wissenschaftsmagazin "Science" vorgestellten Konstruktion  haben die Forscher das Fahrrad nicht völlig neu erfunden. Aber sie geben der Debatte um seine Fahrdynamik neuen Schwung. Erstaunlicherweise herrscht unter Physikern nämlich keinesfalls Einigkeit darüber, woran es liegt, dass ein rollendes Fahrrad nicht einfach so umkippt.

"Ich habe mich immer gestört an den falschen Erklärungen über die Physik des Fahrrads, die man überall findet", sagt beispielsweise der schweizer Physiker Hans Rudolf Zeller. Um den Mythen, die sogar in Physiklehrbüchern immer wieder auftauchen, etwas entgegenzusetzen, hat der inzwischen pensionierte Forscher das Buch "Physik des Fahrradfahrens"  geschrieben und im Internet veröffentlicht.

Fliehkräfte in der Kurve sind entscheidend

Bei der Konstruktion des Two-Mass-Skates hat das holländisch-amerikanische Forscherteam übrigens auch auf ein mathematisches Modell zurückgegriffen, mit dem man die Fahrdynamik am Computer simulieren kann. Reichhaltige Erfahrungen haben die Delfter Forscher zudem in ihrem Labor gesammlt , in dem sie Räder mit und ohne Fahrer auf überdimensionalen Laufbändern untersuchen können.

Um die Wirkung von Kreiselkräften auszuschließen, nutzten die Forscher einen einfachen Trick: Sie montierten oberhalb beider Räder, auf denen ihr TMS rollt, ein jeweils gleich großes Rad, das dank der Reibung eines Gummirings eine genau gegenläufige Drehbewegung ausführt. Der Nachlauf wurde durch die spezielle Bauform der Gabel eliminiert - siehe Fotostrecke.

Was ein Rad stabil macht, erklärt Arend Schwab: "Wenn das Rad nach links kippt, beginnt es eine Linkskurve. Dabei wirken dann Zentrifugalkräfte auf das Rad, die es wieder aufrichten." Diese Fliehkräfte seien letztlich die entscheidende Komponente, da sind sich Schwab und Zeller einig. Im Grunde ging es darum, einen Mechanismus zu finden, der genau dies sicherstellt: Auf ein Kippen muss ein Einschlagen des Lenkers folgen. "Wir haben festgestellt, dass es auch allein mit geschickt verteilten Massen geht", sagt Schwab.

Die ersten theoretischen Arbeiten zur Fahrradphysik stammen vom Engländer Francis Whipple (1899). Der Chemiker David Jones konnte 1970 nachweisen, dass ein Rad auch ohne Kreiselkräfte sicher fährt. Er hatte die Räder durch winzige Kugellager ersetzt. Instabil wurde sein Fahrrad erst, als Jones auch noch die Fahrradgabel so modifizierte, dass es keinen Nachlauf mehr gab.

Der Delfter Fahrradexperte Schwab sieht noch einigen Verbesserungsbedarf bei der Konstruktion von Rädern. "Das klassische Fahrraddesign ist gut, es ist das Ergebnis eines evolutionären Prozesses. Bei Liegerädern und Falträdern ist das Handling jedoch nicht so gut", sagt er im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. Hier seien Dinge vom klassischen Fahrrad einfach übernommen worden, etwa ein Nachlauf von 8 bis 10 Zentimetern und ein Neigungswinkel der Lenkerachse von etwa sieben Grad. Die neue Studie zeige, dass man Stabilität beim Rad auch mit anderen Mitteln erreichen könne.

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten