Nobelpreisträgerin Nüsslein-Volhard "Man muss einfach ausprobieren"

Christiane Nüsslein-Volhard: "Total gescheitert bin ich mit meinem Ausflug in die Wissenschaftspolitik"
Foto: dpa Picture-Alliance / Bernd Weissbrod/ picture alliance / dpaSPIEGEL ONLINE: Frau Professor Nüsslein-Volhard, Sie sind eine der berühmtesten deutschen Forscherinnen, mit Ihrem Namen verbindet man vor allem Erfolge. Uns interessiert aber, wie Wissenschaftler mit Niederlagen und missglückten Experimenten umgehen. Was war denn Ihr bislang größtes Scheitern?
Nüsslein-Volhard: Total gescheitert bin ich mit meinem Ausflug in die Wissenschaftspolitik. Ich war einige Jahre Mitglied im Nationalen Ethikrat, habe mich für die Zulassung der Präimplantationsdiagnostik und der Stammzellforschung eingesetzt und setze mich jetzt für die grüne Gentechnik ein. Aber ich war bisher bei jedem dieser Punkte auf der Verliererseite. Das war ziemlich frustrierend - vor allem, weil es so viel Aufwand war, sich in diese Themen, die ja nicht mein eigenes Forschungsthema betreffen, einzuarbeiten.
SPIEGEL ONLINE: Und in der Wissenschaft selbst? Es gibt Studien, die zeigen, dass etwa die Hälfte aller Experimente nicht das erwartete Ergebnis bringt - das ist doch dramatisch?
Nüsslein-Volhard: Vielleicht sind es sogar mehr. Das würde ich aber noch nicht als Scheitern bezeichnen, eher als missglückte Versuche. Oder der methodische Zugang funktioniert nicht, wie gehofft. Das ist normal. Man probiert etwas, hat eine Lieblingsidee oder eine Hypothese, und dann kommt halt etwas anderes heraus. Das kennt jeder Forscher.
SPIEGEL ONLINE: Frustriert das nicht auf Dauer?
Nüsslein-Volhard: Wer nicht bereit ist zu scheitern, kann auch nichts Neues finden. Man weiß ja nicht, ob man eine Antwort auf die Frage bekommt, die man sich gestellt hat, denn natürlich ist das, was man herauszufinden versucht, noch nicht bekannt.
SPIEGEL ONLINE: Und man muss aushalten, dass die Dinge nicht so funktionieren, wie man es sich vorgestellt hat?
Nüsslein-Volhard: Das gehört zur psychologischen Grundausstattung eines Wissenschaftlers. Man geht ähnlich vor, wie ein Kind beim Spielen: Man probiert etwas, bastelt herum, und wenn es nicht funktioniert, versucht man etwas anderes. Aber klar, wenn man sich von einer Lieblingsidee verabschieden muss, ist das manchmal auch sehr schmerzhaft.
SPIEGEL ONLINE: Kann man das Risiko des Scheiterns minimieren?
Nüsslein-Volhard: Jemand, der überhaupt keine Risiken eingeht, kann kein guter Wissenschaftler sein, ausgeschlossen. Es gibt Leute, die wollen bei jedem Experiment schon vorher wissen, was dabei herauskommt. Das führt zu nichts, man muss einfach auch etwas ausprobieren. Je größer das Risiko, umso größer kann am Ende auch der Gewinn sein. Das war bei der Forschung mit den Taufliegen auch so.
SPIEGEL ONLINE: Dafür haben Sie 1995 den Nobelpreis bekommen. Warum war das Risiko dabei so hoch?
Nüsslein-Volhard: Wir wollten mit Mutanten arbeiten und so möglichst alle Gene finden, die die Entwicklung der Fliege steuern. Unsere Kollegen fanden das viel zu riskant.
SPIEGEL ONLINE: Weshalb?
Nüsslein-Volhard: Niemand hatte solche systematischen Versuche vorher schon gemacht, keiner wusste, wie viele solcher Gene es gibt und ob man sie auch identifizieren kann. Aber wir haben uns vorgetastet und sehr sorgfältig vorbereitet: wir machten einige Vorversuche, rechneten die Ergebnisse hoch und waren eigentlich ziemlich sicher, dass wir Interessantes herausfinden würden. Nur, dass das Ergebnis so klar sein würde, wie es dann war - das konnten wir nicht ahnen.
SPIEGEL ONLINE: War Ihnen das Risiko bewusst?
Nüsslein-Volhard: Na klar. Ich hatte die Idee, einige Methoden aus der Bakteriologie auf die Fliegengenetik zu übertragen, um die große Zahl von Kreuzungen, die dabei nötig sind, geschickt auswerten zu können. Die meisten Leute meinten, das gehe nicht, so etwas habe man ja noch nie gemacht. Aber ich habe einige Tricks mutig und mit viel Ausdauer für die Fliegen entwickelt. Und es hat funktioniert. Ich war aber auch früh schon sehr beharrlich, viel besessener als die meisten. Natürlich hatte ich anfangs Angst, aber ich bin da mit viel Initiative und Probiergeist herangegangen, und vielleicht auch mit einer großen Arroganz.
SPIEGEL ONLINE: Die Theorie sagt ja, in der Forschung könne man auch aus gescheiterten Experimenten Erkenntnisse ziehen - und wenn es nur die ist, dass es so nicht funktioniert. Stimmen Sie zu?
Nüsslein-Volhard: In der Theorie stimmt das. Aber in der Praxis gibt es sogar gelungene Experimente, aus denen man nichts lernt. Ein Beispiel: Man hat als Produkt eines Gens ein bisher unbekanntes Protein gefunden, kann daher keine Schlussfolgerungen daraus ziehen, weil es keine erkennbare Funktion hat. In solchen Fällen kann man eigentlich nur raten, rechtzeitig abzuspringen und etwas anderes zu machen.
SPIEGEL ONLINE:Aber man hat doch dann immerhin gelernt, dass diese Spur nirgendwo hinführt.
Nüsslein-Volhard: Ja, das stimmt, und so etwas wird meist nicht publiziert und dann erfährt es keiner.
SPIEGEL ONLINE: Über die Frage, ob man auch missglückte Experimente oder unergiebige Ansätze in Fachzeitschriften veröffentlichen sollte, wird ja gerade heftig diskutiert. Wie halten Sie es?
Nüsslein-Volhard: Ich würde niemandem raten, ein nicht geglücktes Experiment zu beschreiben. Es könnte ja auch sein, dass Sie selbst einen Fehler gemacht haben, und das Experiment bei einem anderen Forscher sehr wohl funktionieren würde. Eine Studie so aufzuschreiben, dass sie von anderen als wahr und überprüfbar akzeptiert wird, ist unglaublich viel Arbeit. Die machen Sie sich nicht, wenn nichts dabei herauskommt. Wenn Sie wirklich vorankommen wollen, dann brauchen Sie mehr, als nachzuweisen, dass ein bestimmter Ansatz nicht funktioniert. Damit gewinnt man keinen Blumentopf.
SPIEGEL ONLINE: Aber wirft man damit nicht die hehren Prinzipien der Wissenschaft über Bord - Experimente sollten überprüft, alle Daten sollten offengelegt werden - und geht rein nach Erfolgsprinzipien, wie überall sonst auch?
Nüsslein-Volhard: Es wird viel zu viel Unwichtiges publiziert. Ich forsche ja nicht, um nur mehr Daten zu erzeugen, sondern um etwas herauszufinden, etwas wirklich Spannendes zu verstehen, fundamentale Fragen zu beantworten. Ich habe mein erstes Dissertationsthema deshalb auch aufgegeben. Ich habe damals mit Bakterienphagen gearbeitet, sollte Werte bestimmen, die so klein waren, dass sie kaum vom Hintergrund zu unterscheiden waren. Ich sah überhaupt nicht, wie damit etwas Signifikantes herauskommen konnte. Der Aufwand stand in keinem Verhältnis zum erwartbaren Ergebnis.
SPIEGEL ONLINE: Wie hat Ihr Doktorvater reagiert?
Nüsslein-Volhard: Er war furchtbar sauer, ich habe mich mit ihm darüber richtig verkracht. Aber ich wollte mir ein großes Ziel stecken und hatte ein neues spannendes Thema gefunden, das ich dann auch fertig machte. Er hat mir die Bestnote verweigert - weil ich nicht durchgehalten hätte und mir Frustrationstoleranz fehle. Im Nachhinein gesehen war meine Entscheidung richtig, denn es hat sich später herausgestellt, dass das erste Thema wirklich zu nichts geführt hätte. Das sage ich auch jedem: Greift nach den Sternen, sucht nach etwas, was wirklich wichtig, aber auch neu und riskant ist. Die sicheren Themen werden schon von anderen bearbeitet, denen man sie auch besser überlassen sollte.