Nach EuGH-Urteil Enthält jetzt fast all unser Essen Gentechnik?

Beinahe alle Lebensmittel basieren auf Pflanzen, deren Erbgut künstlich manipuliert wurde. Dennoch tragen sie häufig das "Ohne Gentechnik"-Label. Experten streiten, ob das legal ist oder Verbrauchertäuschung.
"Ohne Gentechnik"-Kennzeichnung: Oft haben Strahlung und Chemie die Gene von Lebensmitteln verändert

"Ohne Gentechnik"-Kennzeichnung: Oft haben Strahlung und Chemie die Gene von Lebensmitteln verändert

Foto: Sven Hoppe/ DPA

Zwei Drittel der Deutschen möchten ungern gentechnisch veränderte Lebensmittel essen. Das ist das Ergebnis der Naturbewusstseinsstudie des Umweltministeriums aus dem Jahr 2017 . Bis heute dürfte sich daran kaum etwas geändert haben. Verbraucher zweifeln, dass die Produkte sicher sind oder fürchten negative Folgen für die Umwelt.

Was vielen Menschen nicht klar ist: Ein Großteil unserer Nahrungsmittel basiert schon lange auf Nutzpflanzen, deren Erbgut mithilfe von Röntgenstrahlung oder Chemikalien genetisch verändert wurde. Dabei werden wahllos Mutationen in einer Vielzahl von Pflanzen erzeugt. Entstehen dabei zufällig nützliche Eigenschaften, werden diese Pflanzen weiter gezüchtet.

1965 wurde so etwa die Gerstensorte Diamant geschaffen. Inzwischen ist sie in fast alle Gerstensorten Europas eingekreuzt. Weltweit gibt es 3200 so erzeugte Pflanzensorten, schreiben Forscher des Bundesamtes für Verbraucherschutz (BVL) in einer Studie von 2018 . Laut dem Verband "Forum grüne Vernunft" enthalten mehr als 90 Prozent aller Lebensmittel Genmanipulationen aus Bestrahlung oder einer Chemikalienbehandlung.

Wann ist eine Erbgutveränderung Gentechnik?

In der EU müssen die Produkte aufgrund einer Sonderregelung nicht als gentechnisch verändert gekennzeichnet werden. Hersteller in Deutschland gehen aber noch einen Schritt weiter: Sie bewerben die Produkte immer häufiger mit dem "Ohne Gentechnik"-Label. Nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshof (EuGH) streiten Forscher nun, ob das erlaubt ist oder Verbrauchertäuschung.

Das oberste Europäische Gericht musste im Juli 2018 entscheiden, wie die Gentechnik-Definition im EU-Recht auszulegen ist. Die Frage war, ob ein Organismus allein dann als gentechnisch verändert gilt, wenn er mit gentechnischen Methoden manipuliert wurde, also beispielsweise mithilfe von Röntgenstrahlen. Oder, ob es auf das Ergebnis ankommt - also darauf, ob das Erbgut so verändert wurde, wie es sich natürlicherweise nie hätte entwickeln können.

"Ohne Gentechnik"-Siegel auf einer Packung Wiener Würstchen

"Ohne Gentechnik"-Siegel auf einer Packung Wiener Würstchen

Foto: Gregor Fischer/ DPA

Die Richter kamen zu dem Schluss, dass der Herstellungsprozess entscheidend ist. Demnach sind mit Chemikalien und Strahlung hergestellte Pflanzen gentechnisch verändert. Einige Experten schließen daraus, dass das "Ohne Gentechnik"-Label auf solchen Produkten nicht mehr verwendet werden darf. Doch so einfach ist es nicht. Ob Verbraucher in die Irre geführt werden, hängt davon ab, welche Erwartungen sie haben.

Erwartung, dass vollständig auf Gentechnik verzichtet wurde

Im Auftrag von "Forum grüne Vernunft" hat der Rechtswissenschaftler Reimund Schmidt-De Caluwe von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg die gesetzlichen Grundlagen des "Ohne-Gentechnik"-Labels nach dem Urteil analysiert. Sein Gutachten wird am Freitag auf einer Pressekonferenz vorgestellt und liegt dem SPIEGEL vorab vor. Schmidt-De Caluwe kommt zu dem Schluss, dass der "Ohne Gentechnik"-Slogan Verbraucher in die Irre führt.

"Es ist davon auszugehen, dass die Kennzeichnung die Erwartung weckt, dass bei der Produktion von Nahrungsmitteln vollständig auf Gentechnik verzichtet wurde", argumentiert er. Lebensmittel, deren Bestandteile durch Röntgenstrahlen oder Chemikalien genetisch verändert wurden, dürften daher nicht mehr mit dem Siegel "Ohne Gentechnik" gekennzeichnet werden.

Das "Forum grüne Vernunft" versucht seit Jahren sichtbar zu machen, wie verbreitet Gentechnik im Alltag ist. Die Initiative hat den "Verband Lebensmittel ohne Gentechnik" (VLOG) aufgefordert, das "Ohne Gentechnik"-Siegel künftig nicht mehr für durch Chemie und Strahlung veränderte Nahrungsmittel zu vergeben. Zudem hat sie mehrere große Einzelhandelsunternehmen abgemahnt, die entsprechende Produkte verkaufen.

Eindeutig ist der Fall jedoch nicht. Zwar halten auch Wissenschaftler des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) die Kennzeichnung für irreführend. Man könne nicht davon ausgehen, dass Verbraucher zwischen verschiedenen Methoden der Gentechnik unterscheiden, argumentieren sie in einem Beitrag im Fachmagazin "Natur und Recht"  vom November 2018. Doch es gibt auch Gegenstimmen.

Landwirtschaftsministerium sieht keinen Handlungsbedarf

Bei der Einschätzung der BVL-Forscher handele es sich lediglich um Einzelmeinungen, nicht aber um die offizielle Position des Ministeriums, schreibt etwa der Bundesverband der Verbraucherzentralen auf Anfrage. Er sieht bislang keine Notwendigkeit den Einsatz des "Ohne Gentechnik"-Siegels einzuschränken. Auch das Landwirtschaftsministerium hält sich bedeckt. Es verfolge die juristische Diskussion mit Interesse, sehe bislang aber keinen Handlungsbedarf, hieß es.

Nach der Auffassung der Siegel-Befürworter, verstehen Verbraucher unter gentechnisch veränderten Lebensmitteln vor allem Produkte, die mit modernen gentechnischem Methoden erzeugt wurden. Ein aktuelles Beispiel ist die Genschere Crispr. Im Gegensatz zu Strahlung und Chemie kann sie Gene in Pflanzen zielgenau verändern.

Obst und Gemüse, dass seit vielen Jahren im Handel sei und einst mithilfe von Strahlung und Chemikalien verändert wurde, werde nicht als gentechnisch manipuliert wahrgenommen, so die Argumentation weiter. Die Bezeichnung "Ohne Gentechnik" sei in diesen Fällen daher auch nicht irreführend.

Wer Recht hat, werden Gerichte klären müssen.

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