Patente Der letzte Erfinder der DDR
Es ist etwas größer als eine Konservenbüchse, hat acht Löcher und wiegt so viel wie ein Kürbis. Dieter Mosemann wischt mit einem Lappen das Schmierfett ab. Er hebt das Stück Edelstahl behutsam hoch und zeigt es von allen Seiten. Ein kleines Bauteil für eine große Maschine. Es ist die letzte Erfindung der DDR, Patent Nummer DD 298536, und Dieter Mosemann ist der Erfinder.
Er könnte stolz darauf sein, und vielleicht ist er es auch, aber man merkt es nicht. Mosemann steht in einer Fabrikhalle und redet von seinen Chefs, die ihn immer unterstützt hätten, und von seinen tollen Kollegen, die an vielen der Erfindungen beteiligt waren. Er spricht schnell und konzentriert, er sagt Wörter wie "Teillastverstellung", ohne sich zu versprechen, er sagt meistens "man" und selten "ich". Er sagt: "Der Ingenieursgeist muss immer wach bleiben."
155 Erfindungen hat Dieter Mosemann zum Patent angemeldet, 71 davon in der DDR, die letzte davon am 2. Oktober 1990, ein paar Stunden bevor am Brandenburger Tor das Feuerwerk der deutschen Einheit zündete.
Es ist Zufall, dass ausgerechnet sein Patentantrag der letzte war, bevor die DDR geschlossen wurde. Und doch ist seine Geschichte beispielhaft: für die große Hoffnung, die die DDR in ihre Erfinder setzte; dafür, dass die Planwirtschaft allen Klischees zum Trotz Spitzentechnologie hervorgebracht hat; und für die Schwierigkeiten, die guten Ideen in die globalisierte Wirtschaft hinüberzuretten.
Zu DDR-Zeiten leitete Mosemann die Entwicklungsabteilung im VEB (volkseigenen Betrieb) Kühlautomat in Berlin-Johannisthal. Der Betrieb hatte 2200 Beschäftigte und stattete die russische Fischfangflotte mit Gefriertechnik aus. Der Laden brummte, er machte fast eine Million Mark Umsatz am Tag. Dann fiel die Mauer.
Aus zwei Deutschlands musste ein Deutschland werden. Aus dem VEB Kühlautomat ein Global Player. Und aus dem DDR-Ingenieur Dieter Mosemann ein unternehmerisch denkender Mensch. Mosemann musste lernen, wie der Kapitalismus funktioniert.
Heute ist er 67 Jahre alt. Er hat noch einen Beratervertrag, einen Parkplatz mit Namensschild und ein Büro bei der Firma Grasso. Grasso ist spezialisiert auf Kältetechnik und gehört zum multinationalen Gea-Konzern, einem Hersteller von Melkmaschinen, Kühlhallen und anderen Anlagen für Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie. Im Kern von Grasso steckt immer noch sehr viel VEB Kühlautomat, nur verkleinert und verschmolzen. Der Firmensitz ist inzwischen ein Gewerbepark von Berlin-Reinickendorf. Wenn Mosemann nächstes Jahr noch dabei ist, war er 42 Jahre lang in derselben Firma beschäftigt, 21 Jahre in der DDR, 21 im vereinigten Deutschland. Die Firmennamen wechselten, Mosemann blieb.
Es scheint heute, als habe er alles richtig gemacht. Die Kältemaschinen, die er mitentwickelt hat, kühlen die Vertriebszentren von Aldi, Rewe und Tengelmann, die weltgrößte Skihalle in Dubai, die geschlachteten Opfertiere in Mekka; sie klimatisieren den Stuttgarter Flughafen und gefrieren Fische auf amerikanischen Trawlern. Jede Tüte Vollmilch, jeder Joghurt und jede Tiefkühlpizza, die man heute im Supermarkt kauft, kommt während der Auslieferung mit seinen Erfindungen in Berührung. Auf den ersten Blick ist dies eine deutsch-deutsche Erfolgsgeschichte. In Wahrheit wusste Mosemann nach der Wende oft nicht, wie es weitergehen sollte. "Es war wie ein Wunder", sagt er. "Man lief mit geschlossenen Augen durch den Wald und stieß nie gegen einen Baum." Dass er noch hier ist, verdankt er seinem ersten Chef beim VEB Kühlautomat. Ihr dürft hinfallen, aber nicht liegenbleiben, hatte der immer gesagt. Und: Ihr müsst Patente machen.
Das Patentrecht wurde an sozialistische Bedürfnisse angepasst
Erfindungen waren die Geheimwaffe der DDR im Kampf der Systeme. Erst wenn Deutschland in diesem Herbst zwanzig Jahre Wiedervereinigung feiert, wird dieses Kapitel abgeschlossen: Am 31. Oktober2010 erlischt der Schutz für die letzten DDR-Erfindungen, darunter auch DD 298536. Pünktlich zum Jubiläum beginnen auch Historiker, sich für das Thema zu interessieren.
"Nicht nur die Produktion von Energie und Gütern sollte in der DDR geplant werden", sagt der Leipziger Historiker Matthias Wiesner, "sondern auch der technisch-wissenschaftliche Fortschritt." Das Patentrecht wurde als eines der ersten Gesetze nach dem Krieg an sozialistische Bedürfnisse angepasst, das Patentamt dem Ministerium für Planung unterstellt.
Die ostdeutschen Juristen konstruierten eine Art sozialistisches Patent: Erfindungen waren - innerhalb der DDR - für alle da. Gegen eine vergleichsweise geringe Gebühr durfte jeder volkseigene Betrieb die Patente anderer Betriebe nutzen. Bis zu 200.000 Mark zahlte er einem Erfinder dafür. Der Staat berief sich auf das "Prinzip der materiellen Interessiertheit", im Westen Egoismus genannt. Um die Erfinder zusätzlich zu mobilisieren, führte die DDR den Orden des "verdienten Erfinders" ein.
Tatsachlich meldeten DDR-Bürger pro Kopf fast genauso viele Patente an wie die Westdeutschen. Die Zahl sagt aber wenig über die Qualität der Forschung aus. Ein besseres Indiz sind Erfindungen, die auch in Westeuropa und den USA angemeldet wurden. Innovationsforscher von der Fraunhofer-Gesellschaft zählten diese - und sahen Ostdeutschland in der gleichen Liga wie Italien, Spanien und Belgien.
Viele Ideen entsprangen dem Mangel. Wie man aus Runkelrüben durch chemische Behandlung Pseudoananas zaubert ("Fruchtfleischsimulate mit südfruchtartigen Merkmalen"), beschrieb die Akademie der Wissenschaften in DD 224484. Lebensmittelchemiker verwandelten Apfel in Sultaninen, Sojabohnen in Marzipanersatz, grüne Tomaten in Zitronat.
Mit sogenannten Umgehungspatenten versuchten Kombinate, Westprodukte legal zu imitieren - Dederon zum Beispiel war das ostdeutsche Perlon-Pendant. Oder sie sollten die Embargolisten aushebeln, auf denen etwa nahtlose Pipelinerohre standen.
Andere Erfindungen sollten typische Probleme der Rohstoff- und Energieindustrie des Ostens lösen, etwa der Vorschlag, Abgase mit höherem Druck durch die Schornsteine zu pusten, damit sie die nahe Umgebung nicht so stark verschmutzten. Im Braunkohlekombinat Bitterfeld experimentierten Ingenieure mit wärmeisolierten Eisenbahnwaggons, um im Winter das Gefrieren der Braunkohle zu verhindern, die quer durch das Land gefahren wurde. Eierschalen sollten für die Rauchgasentschwefelung verwendet werden, DD 156603 skizziert die Herstellung von Heizpellets aus Sägespänen und Braunkohle. Viele dieser Erfindungen bestätigten das Klischee von der maroden Planwirtschaft. Aber dann gab es noch die Ideen von Weltklasse. Die Nachtsichtgeräte und Feinoptik des VEB Carl Zeiss. Die Vakuum- und Elektronenstrahltechnik des Forschungsinstituts Manfred von Ardenne. Und die Kältetechnik des VEB Kühlautomat.
Mosemann spezialisierte sich auf Schraubenverdichter, das Herzstück einer Kältemaschine. Ein Motor treibt darin zwei Schrauben an, dick wie Oberschenkel. Sie schieben ein gasförmiges Kältemittel in einem Gehäuse nach vorn und verdichten es. Wenn das Gas sich anschließend wieder ausdehnt, entsteht Kälte. In seiner letzten DDR-Erfindung skizziert Mosemann, wie man unterschiedliche Temperaturen mit einem regelbaren Schraubenverdichter effizient erzeugen kann.
Die Vergütung für eines seiner Patente übertraf seinen Jahreslohn um mehr als das Zehnfache. Mosemann betrachtete das Geld "als materiellen Ausgleich für die falsche Entlohnungspolitik der DDR". Als Ingenieur verdiente er weniger als ein Arbeiter. Am7. Oktober 1977 wurde er als verdienter Erfinder ausgezeichnet. Der Wissenschaftsminister überreichte ihm einen Bronzeorden mit Hammer und Zirkel "in Anerkennung großer schöpferischer Leistungen zur Steigerung der Arbeitsproduktivität". Zu Hause legte er den Orden in eine Schachtel.
Manche Dinge fand Mosemann am Sozialismus etwas seltsam: dass sein Betrieb plötzlich Dachrinnenhalter, Gartenzäune und Kuhlschränke bauen sollte, weil jeder Betrieb Konsumgüter produzieren musste. Andere Dinge störten ihn: der Allmachtsanspruch der Partei, die Ineffizienz und dass die Regale immer so leer waren. Aber er hatte keine Wahl. Er sagt: "Es gibt immer ein Optimum im Leben, und das versucht man zu finden."
"Kreativität kommt von Wissen"
Es war nicht Geld, das ihn motivierte, sagt Mosemann. Es war auch nicht die Partei. Er war Ingenieur. Zum Wettrüsten mit anderen Ingenieuren brauchte ihn keiner zu zwingen. "Ich hatte den Ehrgeiz, die bessere Lösung zu finden." Es war ein stilles Kräftemessen. Manchmal verbrachte er ganze Tage im Patentamt, neben sich kniehohe Kisten mit Akten. Er notierte die Erfinder und die Kurzbeschreibungen in einem Buch, in der Firma schrieb er alles auf Karteikarten. "Kreativität kommt von Wissen", sagt Mosemann.
Als sich die Volkskammer am 2. Oktober 1990 feierlich auflöste, nahm Dieter Mosemann gerade an einer Fachtagung in Essen teil. Es war schön, dass sie dort zusammensaßen, Ingenieure aus Ost und West, aber sie redeten nicht über Politik, sie redeten über Schraubenverdichter.
Mosemann hatte keine Angst vor der Wiedervereinigung. Seine Technik war doch ideologiefrei. Die Russen kühlten damit zwar ihre Atombunker, um sie unsichtbar zu machen für die Infrarotkameras der Amerikaner - das erfuhr er nach der Wende -, aber man konnte damit genauso gut Banken klimatisieren.
Er hatte jetzt einen Chef von der Treuhandanstalt. Die Schutzrechte für seine Erfindungen wurden per Gesetz auf das vereinigte Deutschland übertragen. Und er hatte immer noch Russland. Russland bestellte Maschinen für mehr als 100 Millionen D-Mark und gab ihm noch ein Jahr lang die Illusion, es konnte so weitergehen. Mosemann fuhr mit seiner Frau in den Urlaub, nach Osterreich, sie waren gerade angekommen, standen am Mondsee, da klingelte das klobige Mobiltelefon. "Haben Sie Nachrichten gesehen?", fragte sein Chef. "Gegen Gorbatschow wurde geputscht."
Der Rubel stürzte ab, die Russen konnten nicht mehr bezahlen. Und dann, sagt Mosemann, mussten sie auch noch 50 Eisenbahnwaggons mit Blechen, Rohren und anderen Bauteilen vom Hof fahren und verschrotten lassen, weil der westdeutsche TUV die ostdeutschen Prüfsiegel nicht akzeptiert hatte.
Für Dieter Mosemann gab es keine Kombinate mehr, nur noch Konkurrenten. Sie brauchten einen neuen Markt, wie das nun hieß, den "Warenmarkt der bürgerlichen Gesellschaft", wie Mosemann sagt. Sein Russisch war nicht mehr gefragt. Kühlautomat, inzwischen eine GmbH, machte Schulden und entließ mehr als 1000 Mitarbeiter, auch Mosemanns Frau musste gehen.
Sie waren hingefallen. Wie sollten sie aufstehen? Früher hatten sie vom Verkauf hoch spezialisierter Maschinen gelebt und wie die meisten DDR-Betriebe alles selbst hergestellt. Jetzt mussten sie mehr Auswahl bieten und die Fertigung vieler Teile auslagern. Mosemann erstellte ein Baukastensystem für Schraubenverdichter und holte Angebote von Zulieferern ein. Er dachte jetzt wie ein westdeutscher Produktmanager.
Auf der Suche nach Kunden flog er nach Paris und London, später nach Neuseeland, Australien, Shanghai und Südafrika. Die Lufthansa schickte ihm die goldene Vielfliegerkarte. Manchmal sah er wochenlang seine Familie nicht. Reisefreiheit hatte er sich anders vorgestellt.
Er staunte über die großen Reklameschilder an den Flughäfen. Anfangs dachte er, Kühlautomat müsste dort nur große Plakate aufhängen, dann würden die Kunden schon anrufen. "Wir wussten nicht, wie man Produkte verkauft", sagt Mosemann. Irgendwann merkte er, dass seinem Betrieb Entscheidendes fehlte: der Vertrieb. Kundenbeziehungen. Außendienstmitarbeiter. "Das musste man erst mal verstehen."
Das aber, was die Wiedervereinigung nicht geändert hatte, war die Physik, und für Dieter Mosemann war das schon eine ganze Menge. Er konnte jedem erklären, warum die Maschinen so gut waren. Er machte nebenher seinen Doktor, ein Schraubenverdichterprofessor aus Wien hatte ihn ermutigt, er kannte Mosemanns Patente. Mosemann wollte erst nicht, er hatte ja einen Garten, der ihn forderte. Seine Frau aber überredete ihn, und der Doktortitel erwies sich im Westen als hilfreich, "Doktor Mosemann" sagten die anderen plötzlich zu ihm.
Doch Aufträge bekamen sie erst, als sie ihre Maschinen unter Wert anboten. Sie bauten eine Tiefkühlhalle für Magnum-Eis und kühlten die Produktionsanlagen von Müllermilch. Diese Vorzeigeanlagen beeindruckten den Gea-Konzern, der für sein Geschäft noch einen Hersteller von Kühlgeraten suchte. Gea hatte die Kunden, Kühlautomat die Maschinen. Gea übernahm Kühlautomat mit 575 Mitarbeitern und einer Mitgift von der Treuhandanstalt.
Manche Dinge fand Mosemann am Kapitalismus etwas seltsam. Zum Beispiel dass die amerikanischen Fischereikonzerne für ihre Trawler keine vollautomatischen Gefrieranlagen haben wollten wie damals die Russen, bedienbar von zwei Personen, sondern lieber zwei Dutzend Filipinos einstellten, die im Schichtwechsel in denselben Kojen schliefen.
Mosemann erinnerte sich nun manchmal an seine Marxismusvorlesung an der Technischen Universität Dresden: Der Kapitalist strebt nach dem Maximalprofit, hatte es damals geheißen. Jetzt war dauernd von Freiheit die Rede. American Freedom hieß eines der Schiffe, das Mosemanns Firma ausrüstete. Seine Technik war im Westen angekommen.
Und er selbst? "Ich habe mich nicht geändert", sagt er. "Die Firma gibt das Geld, und ich habe ein eigenes Interesse, dass sie weiterbesteht." Er ist keiner von denen, die meinen, früher sei alles besser gewesen. Er ist froh, dass es die DDR nicht mehr gibt, die oberschlauen Parteisekretäre, die Gängelei, das Warten auf den Telefonanschluss. Sicher, er denkt heute wie ein Kapitalist, er muss Gewinn machen, Wettbewerber ausstechen, "es ist eine Frage des Überlebens", sagt er. Und er hat sich einen Mercedes gekauft.
Aber es gibt Grenzen. Dass Unternehmen ihre Fertigung nach China verlagern und in Deutschland Leute entlassen, nur um noch mehr Profit zu machen, findet er unmoralisch. Nur lässt sich so eine Einstellung durchhalten, wenn die Konkurrenz in China produziert und dadurch billiger ist? Er weiß es nicht. Er hofft es.
Vor Kurzem war Dieter Mosemann mit seiner Frau in einem Kaufhaus, um ein Geschenk für den Enkel zu kaufen. Sie gingen durch die Spielzeugabteilung. Und nur so zum Spaß stellten sie sich vor, wie es aussehen würde, wenn man alles Spielzeug aus China aus den Regalen entfernen wurde. Es würde aussehen wie in den Kaufhallen der DDR.