Plan eines Megaprojekts Auf dem Wasserweg über die Alpen
Auch hoch oben in den , wo die Luft dünn ist und die Zivilisation fern, gelten Naturgesetze. Murmeltiere etwa können nicht fliegen, die Sonne geht im Osten auf, und Bergbäche fließen ins Tal hinab. Pietro Caminada aber will das nicht akzeptieren. Warum, so fragt sich der Schweizer Ingenieur, soll Wasser nicht auch bergauf fließen? Zum Beispiel am Splügenpass?
Caminada, im Mai 1862 in Vrin, einem Nest im Kanton Graubünden, geboren, ist überzeugt, dass man die Welt verändern kann. Immerhin hat doch bereits der große Leonardo da Vinci im späten 15. Jahrhundert an Methoden geforscht, um Wasser über Stock und Stein gezielt an jene Orte fließen zu lassen, an denen es für den Anbau von Reis benötigt wurde, wenn nötig auch gegen die Schwerkraft.
Pietro Caminada selbst, einer der erfolgreichsten seiner Zeit, hat noch größere Pläne: Er will Lastschiffe in einem Kanal über die Alpen schwimmen lassen, über den 2113 Meter hohen Splügenpass in Graubünden. Caminada schwebt ein durchgängiger Wasserweg von der Nordsee bis zum Mittelmeer vor - eine viele hundert Kilometer lange Wasserstraße, die von der Hafenstadt Genua über Alessandria, Mailand, Como, Chiavenna, den Splügenpass, den Bodensee bis nach Basel führt und von dort über den Rhein bis in die Nordsee.
Der Splügenpass liegt nur wenige Kilometer von Caminadas Geburtsort entfernt. Doch das ist nicht der Hauptgrund, wieso er den Kanal hier bauen will. Als direkteste Verbindung zwischen der Bodenseeregion und dem Mittelmeer ist der Splügen für den internationalen Handel schon seit Langem von großer Bedeutung. Auch wenn der Aufstieg Mut erfordert. "Alle Bilder von der Größe und Kraft der Natur, das Ozeanische, Titanische, Vulkanische, Stürme, Erdbeben, der Krieg der Elemente, sie vermögen nicht einen angemessenen Eindruck dieses erhabenen Passes wiederzugeben", notiert der amerikanische Geistliche George Cheever 1846 auf einer Reise durch die Schweiz.
Der Weg über den Pass ist steil und gefährlich
Bereits um das Jahr 1700 tragen Säumer am Splügenpass Handelsgüter wie Getreide, Wein, Salz und Baumwolle übers Gebirge. Dieses Gewerbe macht viele Bewohner des Bergdorfs Splügen reich. Sie errichten stattliche Häuser mit Schiefersteindach, geprägt vom Baustil jenseits des Alpenkamms, nach italienischem Vorbild "Palazzi" genannt. Doch der Weg über den Pass ist steil und gefährlich, viele Säumer, Pilger, Soldaten verunglücken. Als im Dezember 1800 Hilfstruppen aus Frankreich Napoleon bei seinem Italienfeldzug über den Splügen zur Hilfe eilen wollen, reißen Lawinen unweit der Schlucht der Via Mala, des "Schlechten Weges", an einem einzigen Tag Hunderte in den Tod.
In den 1820er Jahren wird der Saumpfad verbreitert, und Mitte des 19. Jahrhunderts transportieren Pferdefuhrwerke jedes Jahr 27000 Tonnen Güter über die Passstraße. Dann jedoch wird am Gotthard, knapp 100 Kilometer weiter westlich, eine Eisenbahnlinie über die Alpen gebaut, und der Splügen verliert an Bedeutung. Die Säumerfamilien verarmen. Politiker überlegen, das Dorf Splügen zu fluten und in einem Stausee zu versenken. Caminada hingegen will die Kraft des Wassers nutzen, um neue Arbeitsplätze in seiner Heimatregion zu schaffen und den Welthandel anzukurbeln.
Als er 1907 mit seinem Kanalprojekt an die Öffentlichkeit tritt, blickt der Ingenieur bereits auf eine eindrucksvolle Karriere zurück. Als junger Mann nach Südamerika ausgewandert, hatte er sich beispielsweise bei der Neugestaltung des Hafenbeckens von Rio de Janeiro einen Namen gemacht. Manche Architekturhistoriker behaupten, Pietro Caminada aus Vrin sei es gewesen, der Rio erst zu einer modernen Großstadt umgebaut habe.
Die Begeisterung war groß - Wasser schiebt das Schiff bergan
Um die Jahrhundertwende - er plante gerade eine Hochbahn für Rio - weckte der 270 Meter hohe Aquädukt Arcos da Lapa aus dem 16. Jahrhundert sein Interesse. Einst leitete er Trinkwasser ins Zentrum der Stadt am Zuckerhut. Caminada schlug vor, das Bauwerk mit den 42 Bogen als Bahntrasse zu nutzen. Nicht nur, dass diese elegante Trasse für die historische Trambahn sich später zu einer beliebten Touristenattraktion der Stadt entwickelte. Wahrscheinlich war es nicht zuletzt die Beschäftigung mit den Arcos, die ihn inspirierte, über eine moderne Wasserstraße durch die Alpen nachzudenken.
Es ist also das Jahr 1907, als Pietro Caminada nach Europa zurückkehrt, sich in Mailand niederlässt - und die Medien informiert. Zeitungen in ganz Italien berichten über sein spektakuläres Kanalprojekt, für das die Chancen gut zu stehen scheinen. Denn Anfang des 20. Jahrhunderts ist das Straßennetz im Alpenraum erst schwach ausgebaut, und viele Nationen setzen beim Gütertransport noch in erster Linie auf die . In Tirol etwa werden Transportschiffe auf der 60 Kilometer langen Strecke zwischen Kufstein und Innsbruck bergauf von Pferden getreidelt, die am Ufer dahintrotten. Auf diese Weise benötigt man weniger Zugtiere als für einen Warentransport über die holprige Landstraße. Die Alpenketten jedoch schienen bisher allen Wasserbaufachleuten unüberwindlich.
Am Splügenpass betragen die Steigungen viele hundert Meter, und um sie zu überwinden, reicht die Muskelkraft von Zugpferden nicht aus. Caminada setzt daher auf Spezialschleusen und die Kraft des Wassers selbst.
Die Technologie, die er entwickelt hat, erinnert an das Rohr einer Wasserleitung im Gebirge, die sich vom Hauptreservoir über Berghänge und Hügel bis zu einer Ortschaft im Tal hinabschlängelt. Solche Röhren - mit viel größerem Durchmesser - will Caminada am Splügen einsetzen, um mit 50 Meter langen Schiffen, die Lasten von bis zu 500 Tonnen tragen, eine Steigung von fast einem Kilometer zu meistern.
Das Projekt stößt auf Begeisterung
Die Kanalröhre ist in Hunderte längliche Doppelkammerschleusen gegliedert. Soll nun ein Kahn den Berg hochgehievt werden, fährt er in die unterste Schleuse ein, und ihr Tor schließt sich hinter ihm. Lässt man dann Wasser in die Schleuse ein, sammelt es sich zunächst an der tiefsten Stelle, hinter dem Schiff. Durch das Ansteigen des Wasserdrucks wird der Kahn vorwärts - und dadurch aufwärts - geschoben, bis er das Niveau der nächsten Schleuse erreicht, die als direkte Fortsetzung der Röhre anschließt.
Um das Wasser optimal auszunutzen, müssen jeweils zwei Schiffe gleichzeitig geschleust werden, eines bergauf, das andere bergab. Das Prinzip ist simpel: Während etwa in der linken Schleusenkammer die Wassersäule sinkt und Schiff A talwärts gleitet, wird das abgelassene Wasser in die rechte Schleusenkammer gepumpt, sodass Schiff B den Berg hochgedrückt wird, von Schleuse zu Schleuse, bis auf rund 1200 Meter Höhe, wo der Alpenkamm am Splügen nur noch wenige Kilometer breit ist. Auf dieser Höhe will Caminada schließlich einen waagerechten, schnurgeraden Tunnel durch den Fels graben, durch den die Frachter zwischen dem Dorf Isola auf der Alpensüdseite und der Rofflaschlucht auf der Alpennordseite verkehren sollen.
Das Projekt stößt auf Begeisterung. Der "Corriere della Sera" aus Rom berichtet auf der Titelseite über Caminadas Konzept, die Leipziger "Weltrundschau" schwärmt von seinem Kanal, der "an den Abhängen der Berge emporklettert". Ja sogar die "New York Times" widmet dem "Waterway across the Alps" einen langen Artikel.
In Italien, das um 1900 einen starken Wirtschaftsaufschwung erlebt, ist das Interesse besonders groß. Im Parlament wird über Caminadas Konzept beraten. Giuseppe Colombo, Direktor der Technischen Hochschule Politecnico di Milano und ehemaliger italienischer Finanzminister, wirbt in einem langen Zeitungsartikel höchstpersönlich für den Kanal und weist auf seine gewaltige wirtschaftliche und politische Bedeutung hin. Und am 3. Januar 1908 empfängt seine Majestät König Vittorio Emanuele III. von Italien Caminada zu einer Audienz im Quirinalspalast in Rom, um sich das "Riesenprojekt" erörtern zu lassen. "Wenn ich schon längst vergessen sein werde", schwärmt der Monarch nach der Präsentation, "wird man immer noch von Ihnen reden."
Forscher erneuern nun die Pläne für den Alpenkanal
Auch Wasserbauexperten aus dem Königreich Preußen loben das Projekt: Mit rund 500 Millionen Lire wäre seine Realisierung zwar teurer als eine Alpenbahn, schreiben sie in einem Gutachten, der Betrieb jedoch weitaus ökonomischer. Politiker aus dem Schweizer Kanton Tessin schlagen Änderungen vor: Caminada solle den Kanal auf der Alpensüdseite statt in den Comer See in den Lago Maggiore münden lassen, der auf Tessiner Territorium liegt. Denn dadurch erhofft man sich einen lokalen Wirtschaftsaufschwung.
In Caminadas Heimatkanton Graubünden, wo weite Teile des Alpenkanals realisiert werden sollen, überwiegt hingegen die Skepsis. Nicht wenige Bündner Politiker wollen dem Gotthard nämlich auf andere Weise wieder den Rang ablaufen: Auch über den Splügen müsse eine Eisenbahn gebaut werden, fordern sie. Und die mächtige Bahnlobby sieht in Caminadas Vorschlag eine lästige Konkurrenz. "Uns wäre besser gedient, wenn die Italiener sich einmal energisch aufraffen und fest erklären würden, wir geben so und so viele Millionen an die Splügenbahn", kommentiert die "Bündner Post".
Caminada aber kämpft für seine Idee. Mehr als 15 Jahre lang feilt er an den Plänen, baut das gesamte Schleusensystem für den Kanal in unterschiedlichen Varianten in Miniatur auf. Schließlich konstruiert er für eine Architekturausstellung in Mailand ein Riesenmodell im Maßstab eins zu zehn. Und unermüdlich leistet er Überzeugungsarbeit bei Politikern und Funktionären. Er sei "ein brennender Vesuv", schreibt das "Bündner Tagblatt" über den Ingenieur, "ein Feuerkopf mit Haar bis auf die Schultern".
Mit den Jahren gerät das Projekt in Vergessenheit
Doch dann bricht der Erste Weltkrieg aus. Und gerade für die Machthaber in Rom, die Caminadas Projekt das größte Interesse entgegengebracht haben, stehen nun militärische Eroberungen im Vordergrund. Nach Kriegsende arbeitet der Ingenieur sein Konzept weiter aus. Denn er ist überzeugt, dass Italien nach den Siegen auf dem Schlachtfeld auch die Vorherrschaft im Welthandel anstreben wird. Und mithilfe seiner Technologie könnte der Mittelmeerhafen Genua die wichtigste Drehscheibe für den internationalen Handel werden, glaubt er. Im Jahr 1923 will er nach Graubünden reisen, um die Bedingungen für die baldige Errichtung des Alpenkanals vor Ort zu prüfen. Doch er kann die Reise nicht mehr antreten: Am 20. Januar 1923 stirbt Caminada im Alter von 60 Jahren in Rom.
Das Konzept für seinen Schleusenkanal ist an den technischen Hochschulen jener Zeit fester Bestandteil des Lehrplans. Doch mit den Jahren gerät das Projekt in Vergessenheit. Wohl vor allem, weil die Straßenbau- und Autolobby immer mächtiger wird und die Binnenschifffahrt zurückdrängt.
Auch an Pietro Caminada erinnert sich bald kaum mehr jemand. Bis Kurt Wanner die Bildfläche betritt. Als der Pädagoge mit dem Vollbart Mitte der 1960er Jahre nach Splügen zieht, um an der Dorfschule zu unterrichten, verliebt er sich in den gleichnamigen Alpenpass. "Wenn der Splügen nach der Wintersperre im Mai jeweils wieder geöffnet wurde, war das für mich ein richtiges Aufschnaufen", erzählt er.
Caminadas Traum könnte Wirklichkeit werden
Mehr als 100-mal wandert der Lehrer in den folgenden Jahrzehnten über den Splügen. Und bei seinen Nachforschungen zur Lokalgeschichte hört er auch von den Plänen Caminadas. Wanner recherchiert, liest Zeitungsartikel von damals und organisiert schließlich 2005 im Heimatmuseum von Splügen eine Sonderausstellung über Caminadas Kanalprojekt. Seitdem hat sich wieder eine kleine, aber begeisterte Fangemeinde gebildet.
Doch lässt sich die Welt wirklich verändern, wie Pietro Caminada damals glaubte? Auch 100 Jahre nach seiner großen Zeit können Murmeltiere nicht fliegen. Die Sonne geht noch immer im Osten auf, und Bergbäche fließen weiterhin ins Tal hinab. Caminadas Traum von einem Alpenwasserweg könnte trotzdem Wirklichkeit werden. Zumindest, wenn Albert Mairhofer aus dem Bergdorf Gsies in Südtirol recht behält.
Mairhofer, ein Wasserkraftaktivist und pensionierter Staatsbeamter, hat sich von Caminadas Projekt inspirieren lassen. Die Entwürfe des Pioniers seien "sehr beeindruckend", schwärmt er, "aber etwas zu kompliziert". Sein eigener Vorschlag kommt denn auch ohne raffinierte Doppelkammerschleusen oder hydraulische Schiffshebewerke aus: Statt über die Alpen will er mittendurch.
Er plant einen 88 Kilometer langen Tunnel für den Schiffsverkehr, der östlich von Innsbruck auf 550 Meter Höhe durch den Alpenhauptkamm bis nach Gargazon im Etschtal in Südtirol führt. Über den Gardasee und den Po soll der Wasserweg dann bis nach Venedig am Adriatischen Meer weiterführen. Diese "Donau-Tirol-Adria-Wasserstraße" sei eine "deutlich ökonomischere Alternative zum Bau des hochumstrittenen Brenner-Eisenbahntunnels", sagt Mairhofer.
Er hat errechnet, dass sich in den Alpen nicht nur Verkehrsstau und Stress reduzieren, sondern auch eine Million Liter Treibstoff und 2700 Tonnen Kohlendioxid je Tag einsparen lassen, wenn am Brenner künftig vermehrt Schiffe statt Autos verkehren. Die Pläne für sein Projekt hat er bei der Europäischen Kommission in Brüssel zur Förderung eingereicht. Und Mairhofer denkt bereits weiter: Auch mit dem Schwarzen Meer und dem Sueskanal will er seinen Alpenwassertunnel vernetzen. Ganz nach dem Motto: Wasserwege aller Länder, vereinigt euch!
Till Hein, Jahrgang 1969, freier Wissenschaftsjournalist, ist in der Schweiz aufgewachsen und lebt in Berlin. Bei seinen Fahrradausflügen durch Brandenburg bewundert er die Seen, Bäche und Flüsse und vermisst die Berge und die Murmeltiere. Von Caminadas Alpenwasserstraßenprojekt hörte er erstmals auf einer Wanderung in Graubünden.
Dieser Text stammt aus "Mare" Februar/März 2011