Nuklear-Vorfall Wie Russland die Aufklärung über die radioaktive Wolke blockiert

Die 2017 aufgetauchte Ruthenium-Wolke geht nach SPIEGEL-Informationen auf einen schwerwiegenden Vorfall zurück, über den Russland bis heute schweigt. Die Grünen verurteilen das, sie fordern eine Reform des Schnellwarnsystems.
Warnschild radioaktiver Strahlung (Archivbild)

Warnschild radioaktiver Strahlung (Archivbild)

Foto: Jan Woitas/ picture alliance / dpa

Wenn etwas schiefläuft, hängt man das nicht gern an die große Glocke. Das ist im Grunde eine ziemlich menschliche Verhaltensweise. Schwierig wird es allerdings, wenn vom eigenen Missgeschick auch andere betroffen sind. Dann kann Schweigen zur Gefahr werden.

Zur Einschätzung von Nuklearunfällen gibt es seit geraumer Zeit die Internationale Bewertungsskala für nukleare und radiologische Ereignisse, nach ihrer englischen Abkürzung auch als Ines-Skala bekannt. Sie reicht von 0 ("Ereignis ohne oder mit geringer sicherheitstechnischer Bedeutung") bis 7 ("Katastrophaler Unfall").

Die Skala hat einen logarithmischen Aufbau. Das heißt, dass zwischen zwei Stufen jeweils der Faktor zehn bei der Schwere liegt. In der schwersten Kategorie sind bisher zwei Ereignisse verzeichnet: die Katastrophen von Tschernobyl (1986) und Fukushima (2011). In der zweitschwersten Stufe 6 findet sich ein einziges Ereignis, das sich 1957 in der Kerntechnischen Anlage Majak ereignet hat.

Und vermutlich auf dieser Anlage in Russland hat sich im vergangenen September auch etwas zugetragen, das - so sieht es die Bundesregierung nach SPIEGEL-Informationen - als ein Ereignis der Stufe 5 einzustufen wäre. Wäre, wie gesagt. Denn eine entsprechende Meldung an die Internationale Atomenergieorganisation (IAEO) in Wien gibt es bis heute nicht.

Strahlenschützer waren verwundert

"Eine Einstufung wäre durch den Staat vorzunehmen, in dem das Ereignis stattgefunden hat. Dies ist bisher nicht erfolgt", schreibt Rita Schwarzelühr-Sutter, Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesumweltministerium, auf eine Schriftliche Frage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Im September und Oktober 2017 hatten Messanlagen in ganz Europa eine Wolke von schwach radioaktivem Ruthenium bemerkt. Eine Gesundheitsgefahr für die Bevölkerung gab es damals nicht - aber Strahlenschützer waren zumindest verwundert.

Der Vergleich mit anderen Stufe-5-Vorfällen macht das Ausmaß der Ruthenium-Wolke nun klar: In der Ines-Kategorie 5 sind unter anderem der Brand im britischen Reaktor Windscale (wurde später Sellafield genannt) im Jahr 1957 und die Kernschmelze im US-Kraftwerk Three Mile Island 1979 eingeordnet. (Lesen Sie hier eine Rekonstruktion der Ereignisse in Three Mile Island.)

Wie es zur Freisetzung der strahlenden Wolke im September und Oktober 2017 kam, ist bis heute nicht restlos geklärt. Aus einem Atomkraftwerk stammte das Ruthenium nicht, das belegten schnelle Analysen. In diesem Fall hätten sich auch andere charakteristische Elemente wie Rhodium und Palladium nachweisen lassen müssen. Doch das gelang nicht. Schnell fiel der Verdacht daher auf eine Wiederaufbereitungsanlage.

Laut einer Auswertung des französischen Instituts für nukleare Sicherheit (IRSN) dürfte die Quelle der strahlenden Wolke im Südural gelegen haben. Dort befindet sich die russische Wiederaufbereitungsanlange Majak, auf die die französischen Nuklearexperten auch ausdrücklich als mögliche Quelle hinweisen. Speziell könnte es dort ein Problem bei der Herstellung einer Probe für ein geplantes teilchenphysikalisches Experiment in Italien gegeben haben.

Die von den Franzosen veröffentlichte Indizienkette zur möglichen Ursache sei "in sich schlüssig", erklärt das deutsche Umweltministerium nun. "Gleichwohl kommen auch andere Ursachen in Betracht."

"Unfassbar"

Russland hat bisher ausgeschlossen, dass es in einer seiner Atomanlagen im betreffenden Zeitraum zu einem Problem gekommen ist. Eine unabhängige Untersuchungskommission, unter dem Dach der russischen Akademie der Wissenschaften ins Leben gerufen, befasst sich mit dem Vorfall.

"Gut drei Jahrzehnte nach der Atomkatastrophe von Tschernobyl stehen wir vor der gleichen Mauer des Schweigens und der Desinformation des verantwortlichen Staates. Unfassbar", beklagt Sylvia Kotting-Uhl von den Grünen, die Vorsitzende des Umweltausschusses im Bundestag. Einst habe die Sowjetunion "die Welt hinter die Fichte" geführt, heute versuche es Russland.

"Dass die europäischen Regierungen einschließlich der Bundesregierung diese Obstruktion der Wahrheitsfindung protestlos hinnehmen, ist inakzeptabel. Wir brauchen mehr Aufklärungsdruck und eine Reform des globalen Schnellwarnsystems für Atomunfälle", so Kotting-Uhl. Der Atomunfall vom September müsse restlos aufgeklärt werden - "und die Welt vor dem nächsten besser geschützt".

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten