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ZEITGESCHICHTE Teufel im Barackenmeer

War der KZ-Arzt und Mörder Josef Mengele ein Spitzenforscher der Genetik? Vergangene Woche legten Historiker in Berlin neue Erkenntnisse vor: Der SS-Mediziner betrieb seine Gräuelexperimente in Auschwitz im Auftrag deutscher Elitelabors.
aus DER SPIEGEL 12/2005

Am 30. Mai 1943 trat ein junger Arzt im Lager Auschwitz B II Birkenau seinen Dienst an. Ein Schwiegersohntyp: mittelgroß, feines Gesicht, 32 Jahre alt. An seiner Uniform prangte der Äskulapstab.

20 Monate später lag schier unfassbare Schuld auf dem Sohn eines bayerischen Landmaschinenherstellers. Wagner-Melodien pfeifend hatte er von der Rampe aus Juden ins Gas geschickt. Er spritzte Kindern Chloroform ins Herz, infizierte Häftlinge mit Typhus, verätzte Frauen die Eileiter.

Der Name Josef Mengele ist zur Chiffre für Rassenwahn und Menschenexperimente geworden. Auf »bestialische Art« und mit »Freude am Töten«, so steht es im Haftbefehl der deutschen Justiz von 1959, habe er Häftlinge ermordet. Eine Million Mark wurde auf seine Ergreifung ausgesetzt - ohne Erfolg.

Nicht zuletzt die Aussagen der Überlebenden steigerten den Peiniger zum Dämon. »Auffallend hübsch« sei der Mann gewesen, »fast warmherzig« habe er zuweilen geblickt, ein »sauberer und stets parfümierter« Herr, der mit weißen Handschuhen, eine Peitsche in der Hand, mit dem Opel über die schlammigen Wege des Konzentrationslagers Auschwitz fuhr, in dem in Pferdeställen aus Holz bis zu 150 000 Entrechtete kauerten.

»Teufel in Menschengestalt«, »Symbol des Bösen« - große Worte hat die Nachwelt für diese Person gefunden, die den entgrenzten Lagerkosmos des NS-Staats für ihre Versuche nutzte.

Nur: Was genau trieb der Mediziner an jenem Ort, an dem 960 000 Menschen ihr Leben ließen?

Er schlug einem Kind so heftig mit der Faust auf den Kopf, dass es starb. Er schoss Deportierte mit der Pistole nieder. Zugleich richtete er einen »Kindergarten« ein und spielte dem KZ-Mädchenorchester mit der Geige vor. Alles verwirrende Einzelfakten.

Der Täter selbst tauchte ab. Seine Verbrechen blieben ungesühnt. 1979 starb er beim Baden am Traumstrand von Bertioga in Brasilien. Alle Labornotizen und Manuskripte sind verschwunden.

Ausgemacht schien nur, dass hier ein »Pseudowissenschaftler« am Werk war. Auf eigene Faust, so heißt es in der großen Mengele-Biografie von Ulrich Völklein, habe er in dem Vernichtungslager »wie im Blutrausch gewütet«.

Doch solche Ansichten treffen den Kern offenbar nicht. Fünf Jahre lang hat eine Historikerkommission die Archive der Max-Planck-Gesellschaft (MPG) in Berlin durchkämmt. Deren Vorläuferorganisation, die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG), brachte über 20 Nobelpreisträger hervor.

Vorige Woche traf sich die Gruppe in Berlin zur Abschlusstagung. Ergebnis: Zwischen den schmucken Laborvillen der KWG, von denen viele in Dahlem lagen, und der von 16 Kilometer Stacheldraht umgebenen Todesfabrik in Oswiecim bestand ein dichtes »Netz an Verbindungen":

* Mengele bereitete in Auschwitz seine Habilitation vor,

* er war an einem Protein-Projekt beteiligt, für das auch der Nobelpreisträger Adolf Butenandt einen Mitarbeiter abgestellt hatte,

* er hielt engen Kontakt zu seinem Doktorvater, dem international angesehenen Zwillingsforscher Otmar von Verschuer, der 1942 das Kaiser-Wilhelm-Institut für

Anthropologie, Erblehre und Eugenik (KWIA) übernommen hatte.

Unklar bleibt die Rolle Butenandts (1903 bis 1995), dessen Erkundung der Sexualhormone und Proteine zu den größten Wissenschaftsleistungen des 20. Jahrhunderts gehört. Neuentdeckte Dokumente werfen einen Schatten auf den Top-Chemiker: Offenbar erwog er, die antibiotische Wirkung von Schimmelpilzen an Menschenlebern zu testen.

Auch sein »Hämopoetin-Projekt« ist verdächtig. Butenandt suchte einen Stoff zur schnellen Vermehrung der roten Blutkörperchen, um die Sauerstoffsättigung in den Adern zu erhöhen. Schwerverletzte Soldaten, auch Piloten, sollten so länger bei Bewusstsein gehalten werden.

Ende 1944 war das Unternehmen so weit gediehen, dass eine Phase der Menschenversuche hätte beginnen können. Aber wurden sie auch gestartet? Diese Frage ist immer noch nicht gelöst.

Klarer liegt der Fall bei Verschuer (den die »New York Times« noch 1928 als Superstar gefeiert hatte). Acht seiner Mitarbeiter waren zugleich in der SS. Auf einer Personalliste des Instituts findet sich auch Mengeles Name. Der Historiker Benoît Massin stuft dessen Horrorlabor als »Außenstelle Auschwitz« des KWIA ein.

Tatsache ist: Zwischen Berlin und dem Todeslager zog sich ein blutiger Pfad. Über eine Strecke von 500 Kilometern lief ein Organhandel per Post. Verschuer erhielt:

* mindestens vier Augenpaare von Zwillingskindern sowie weitere 20 bis 50 Augäpfel,

* Blutproben von »200 Personen verschiedenster rassischer Herkunft«,

* Hunderte Humanpräparate, darunter abgeschnittene Kinderköpfe, Skelette von Juden, »Doppelmissbildungen aller

Art« sowie »Früchte und Neugeborene von EZ und ZZ« (gemeint sind ein- und zweieiige Zwillinge).

»Ich badete die Leichen von Krüppeln und Zwergen in Calciumchloridlösung und kochte sie in Bottichen, damit die sachgemäß präparierten Skelette in die Museen des Dritten Reiches gelangen konnten«, erklärte nach dem Krieg der ungarische Pathologe und Auschwitz-Häftling Miklós Nyiszli, der zu Mengeles - gezwungenem - Arbeitsstab gehörte.

Nur, wieso das alles? Zeugen berichteten, Mengele habe Sinti untersucht, die, grauenhaft entstellt, an Wasserkrebs litten, einem Hungerphänomen, bei dem die Wange abfault. Auch habe er braunäugigen Kindern Tinkturen in die Augen getropft, um deren Irisfarbe blau zu färben und sie gleichsam zu »arisieren«.

Aus solchen Erzählungen formte sich das Bild vom »Sadisten Mengele«, dessen absurdes Tun nur noch durch dessen Grausamkeit

steigerbar schien. Die Frankfurter Staatsanwaltschaft mutmaßte in ihrer Anklage, der Mann habe das »Geheimnis der Zwillingsgeburt« lösen wollen, um bei den deutschen Frauen die Geburtenrate zu erhöhen.

All das stimmt nicht. Mengele war kein Doktor Mabuse, sondern ein »talentierter Nachwuchswissenschaftler« (Massin), der jenseits ethischer Erwägungen und eng verzahnt mit den Ordinarien im Reich Versuche durchführte.

»Die historiografische Forschung ist durch die Konstruktion einer Trennlinie zwischen ,pseudowissenschaftlicher'' Forschung einerseits und ,seriöser'' Forschung andererseits nachhaltig irregeleitet worden«, fasst MPG-Forscher Alexander von Schwerin die neuen Erkenntnisse zusammen.

Mit der Einsicht, dass auch ein Mörder Eliteforschung betreiben kann, fällt neues Licht auf einen Mann, der, 1911 geboren, in Schwaben aufwuchs. Als Schüler springt er durch Sonnenwendfeuer und schreibt Gedichte. »Es war seine Leidenschaft, berühmt zu sein«, so ein Schulkamerad.

1930 bricht der junge Medizinstudent nach München auf. Anschaulich beschreibt der MPG-Historiker Hans-Walter Schmuhl in einem neuen Buch, in welche Zeit er dabei hineinwuchs*. In Sachen Erblehre waren die dreißiger Jahre turbulent.

Bis dahin hatte der Augustinermönch Gregor Mendel die Lehrpläne bestimmt. Doch nun zeigte sich, dass alles viel komplizierter war: 1938 beschrieb Verschuers Team erstmals das Phänomen des »Crossing over«, bei dem Gene oder Chromosomen zu Bruchstücken zerfallen.

Auch merkte man, dass äußere Faktoren eine Rolle spielten. Ernährung, Klima, Licht, selbst vorgeburtliche Einflüsse, etwa die Lage des Fötus, bestimmten den Weg mit vom Genotyp zum Phänotyp, vom Erb- zum Erscheinungsbild.

Zugleich begann der Ansturm auf die molekulare Grundlage der Vererbung. 1939 gelang Butenandt im Wettlauf mit US-Labors ein erster Durchbruch. Er konnte zeigen, dass pigmentgestörten Mehlmotten mit roten Augen ein bestimmtes Enzym fehlte. Spritzte man den Tieren nachträglich den Stoff in die Haut, färbte sich das Auge normal schwarz.

Waren die Gene, so Butenandt, womöglich nichts anderes als Baupläne zur Herstellung bestimmter Eiweiße? Anfang der Vierziger machten zwei US-Genetiker aus seinem Verdacht einen allgemeinen Grundsatz. Die »Ein-Gen-ein-Enzym-These« war geboren. Dafür erhielten die Amerikaner 1958 den Nobelpreis.

An dieser Forschungsfront mischte auch Mengele mit. Für seine Doktorarbeit über die »Lippen-Kiefer-Gaumenspalte« (1938 »summa cum laude« abgeschlossen) untersuchte er 17 Kinder mit Hasenscharte sowie 1222 von deren Verwandten, um den »Erbgang« der Fehlbildung zu verstehen. »Bis in die sechziger Jahre galt die Arbeit international als Standardreferenz zu dem Thema« (Massin).

Doch die Gen-Elite unterm Hakenkreuz begab sich immer mehr auf einen bösen Abweg. Nicht nur verfertigte Verschuers Haus »Rasse- und Abstammungsgutachten«. Freiweg begrüßte der Chef 1941 auch die »Lösung der Judenfrage«.

Die Erblehre sei eine »Hüterin des Volkskörpers«, posaunte der Ordinarius aus der Ihnestraße. Nur durch »Ausmerze« der Schwachen und Fremden, hieß es, lasse sich der biologische Niedergang Deutschlands abwenden.

So sah es auch sein Lieblingsschüler »Dr. med. et Dr. phil. Mengele«. Der hatte 1939 in der Bergwelt von Oberstdorf eine strohblonde Studentin geheiratet. Die Aufnahme ins SS-Sippenbuch, in den auserwählten Kreis der »Edelinge nordischer Art und Gesinnung«, wurde ihm allerdings verwehrt.

Bei Kriegsausbruch meldete sich der Mediziner zur Waffen-SS, er war an den Kämpfen um Stalingrad beteiligt. Im Frühling 1943 tauchte er jäh in Oswiecim auf.

Angesichts der rauchenden Krematorien geriet der Neue kurz aus dem Tritt. In den »ersten drei oder vier Tagen« habe er die Totenscheine nicht ausgefüllt, heißt es. Als Häftlinge ihn aufklärten, dass die aus Schwerstkriminellen rekrutierten Blockältesten die Juden gern zu Tode prügeln

würden, ließ er über hundert dieser »Kapos« antreten und abstrafen.

Nach der Aktion wurde Mengele umgehend nach Berlin einbestellt. Die Unterredung brachte ihn auf Kurs.

Meist um neun Uhr trat er seinen Dienst an. Wie allen Lagerärzten oblag ihm die Überwachung des Vernichtungsvorgangs. Trafen neue Gefangene ein, sonderte er die Kranken und Schwachen aus. Auch kümmerte er sich um die Seuchenkontrolle. In Auschwitz wüteten Ruhr und Fleckfieber. Als 1944 im »Tschechenlager« Typhus ausbrach, schickte er alle rund 10 000 Insassen ins Gas.

Auch beteiligte sich der »schöne Satan« an der militärmedizinischen Zweckforschung. Im Lager liefen Stromexperimente an Häftlingen, man fügte ihnen Schusswunden zu und infizierte diese mit Erde. Zudem wurden Sterilisationstechniken erprobt: Entfernung der Eileiter, Röntgenbestrahlung und Verätzung des Unterleibs, Hodenoperationen.

Die meiste Zeit aber verbrachte der Arzt in einem abgesonderten Bezirk nahe dem Krematorium V - dem »Zigeunerlager«.

Als »Barackenmeer«, ohne Toiletten und mit Straßen, in denen man knöcheltief versank - so haben Häftlinge das Inferno beschrieben. Gleichwohl soll über dem Bezirk, in dem rund 10 000 Sinti und Roma eingepfercht waren, ein Hauch Romantik gelegen haben. Die Zigeuner durften in Familienverbänden leben.

Für Mengele bot sich hier ein Dorado. Umgehend bezog er ein Holzlabor. Zwischen Mikroskopen und Pipetten saß ein Team von Häftlingsärzten - Pathologen, Anatomen, Internisten, darunter auch der berühmte Pariser Pädiater Charles Bendel. Die Versuche unterteilten sich in drei Gruppen:

* Suche nach den genetischen Faktoren der »Noma facies« ("Wangenbrand"),

* Ursache des Riesenwuchses,

* Zwillingsforschung.

Halbe Tage lang stand der Mörder mit der Äskulapbinde auf der Rampe und fischte aus dem Meer der Häftlinge die Mehrlinge ab. Sein Chef Verschuer hatte acht Jahre gebraucht, um etwa tausend Zwillingspaare für Forschungszwecke aufzuspüren.

Mengele dagegen schöpfte nun aus dem Vollen. Er war ein Gott, ein Herr über Leben und Tod. Jederzeit konnte er seine Versuchspersonen töten und in einer Orgie »verbrauchender Forschung« histologisch untersuchen.

Dabei hielt der Arzt engste Verbindung nach Berlin. »Jedes Zwillingspaar, das neu in die Baracke kam, musste als Erstes einen detaillierten Fragebogen des Kaiser-Wilhelm-Instituts ausfüllen«, erinnerte sich der Häftling Zvi Spiegel.

Dann folgten endlose Untersuchungen. Den Kindern wurde Blut abgezapft, Helfer vermaßen und röntgten ihre Gliedmaßen und machten Lumbalpunktionen. Ziel war es, die eineiigen Paare von den zweieiigen zu unterscheiden. Das Verfahren beruhte auf dem von Verschuer entwickelten, weltweit einzigartigen »anthropometrischen Ähnlichkeitstest«.

Massin schätzt, dass mindestens 900 Zwillingspaare das Labor durchliefen,

überlebt haben kaum 50. Wissenschaftlich gesehen aber war das Ganze pure Phänogenetik. Mengele arbeitete an Kernfragen der Vererbungslehre: Warum entwickeln sich Zwillinge auseinander? Was bewirkten die Gene und was Geburt und Umwelt? Fragen, die auch die Fachleute von jenseits des Atlantiks umtrieben.

Ende 1943 kam der Hauptsturmführer, schmal, fast schüchtern, nach Dahlem zu Besuch. Von den Verschuers privat eingeladen, saß er bei Tisch und plauderte. »Was ist in Auschwitz los?«, wollte die Gattin des Professors wissen. »Ich kann darüber nicht sprechen, es ist grauenvoll«, soll der Gast in etwa geantwortet haben.

Später, als Verschuer in der jungen Bundesrepublik den Lehrstuhl für Humangenetik in Münster übernommen hatte, konnte er sich an nichts mehr erinnern. Auschwitz? Keine Ahnung.

Doch in Wahrheit hatte der KWIA-Leiter seine Hände im Spiel. Alle Indizien sprechen dafür, dass Mengele ihm als verlängerter Arm diente. Er war der Mann fürs Grobe.

Beim »Iris-Projekt« konnten die MPG-Fahnder die Fährte nun genau nachzeichnen. Bereits 1942 hatte das KWIA ein Riesenunternehmen aus der Taufe gehoben: Man wollte wissen, warum die Vererbung der Augenfarbe nicht den klassischen Mendelschen Gesetzen folgt.

Als Hauptpersonen dienten die Mitglieder einer »Zigeunersippe« aus Oldenburg. In ihr lebten gleich drei Zwillingspaare mit heterochromen Augen. Jedes dieser Kinder hatte eine braune und ein blaue Iris - eine extrem seltene Anomalie.

Doch im März 1943 stockte die Arbeit jäh. Die Sinti waren vom Sammellager, einem Schlachthof in Bremen, nach Auschwitz deportiert worden - Start für den Genozid an den europäischen Zigeunern.

Verschuer reagierte sofort. Sein Mitarbeiter Siegfried Liebau reiste in das Todeslager. Bald danach traf auch Mengele dort ein.

Dann gingen die Tests munter weiter. Voller Grauen berichteten Überlebende, wie der SS-Arzt Babys Tinkturen in die Augen träufelte, die Juckreiz und Vereiterungen auslösten. »Die kleine Dagmar sollte blaue Augen kriegen«, meinte eine Mutter, deren Säugling nach der Prozedur nurmehr »rohe Klumpen« in den Höhlungen hatte. Das Baby starb.

Was auf den ersten Blick wie ein wahnwitziges Experiment erscheint, folgte gleichwohl wissenschaftlicher Logik. Denn zur selben Zeit liefen am KWI für Biochemie Versuche zur »Einwirkung mehrerer Hormone und pharmakologisch wirksamer Stoffe auf die Pigmentierung im Auge«. Eng angelehnt an Butenandts Mottenversuch sollte erprobt werden, welche Co-Faktoren die Augenfärbung mitbestimmen.

Was die einen an Kaninchen testeten, machte der andere mit Menschen.

Am Ende mündete die »Teamarbeit« (Schmuhl) in einen brutalen Mord. Im Sommer 1944 spritzte der KZ-Doktor alle heterochromen Zwillinge tot. Ihre Augäpfel gingen, in Formalin schwimmend, nach Dahlem.

Am 1. August 1944 war es mit der »Sippenforschung« dann völlig vorbei. Das »Zigeunerlager« wurde ausgelöscht. »Uns begrüßte eisige Stille«, erinnerte sich später ein Häftling. »Der gewohnte Trubel war verstummt, die Ruhe ungewohnt. Nur die Krematorien qualmten gewaltig, mächtige dunkle Rauchsäulen, durchdrungen von roten Flammen, stiegen zum Himmel, unerträglicher Gestank von verbranntem Fett, Haaren, Fleisch machte das Atmen unmöglich, wir hörten das Surren der Ventilatoren.«

Nach Angaben des jüdischen Pathologen Nyiszli hatte Mengele bis dahin Hunderte von Präparaten mitsamt Sektionsprotokollen und ausführlichen Krankengeschichten per Post nach Berlin geschickt. »Eilig - kriegswichtiger Inhalt«, stand auf den Paketen. Histologische Schnitte von Buckeln und Klumpfüßen, Organe von Verwachsenen und von Zwillingen gelangten so ins Reich - eine Fährte des Grauens.

Das Material ist komplett verschollen. Die entscheidenden Archivakten fehlen.

Gleichwohl ist es nun gelungen, ein weiteres KWIA-Projekt zu enttarnen. Es lief unter dem Kennwort »Spezifische Eiweißkörper«. Anfang 1944 schrieb Verschuer, er habe »Blutproben von über 200 Personen verschiedenster rassischer Zugehörigkeit« aus Auschwitz erhalten.

Nur: wieso? Der Biologe Achim Trunk hat endlich auch dieses Rätsel gelöst. Das KWIA arbeitete an einem »serologischen Rassentest«. Ziel war ein Schnellverfahren, um etwa einen Kirgisen vom Tataren oder Usbeken auf Proteinbasis zu unterscheiden.

500 Versuchskaninchen wurden für das Unternehmen angeschafft. Jeder Käfig besaß einen Urinauffangbehälter zur Gewinnung von »Abwehrfermenten«. »Aus damaliger Sicht«, so Trunk, »hatte das Projekt höchstes Niveau.«

Was für eine Spur des Schreckens! Der Experte Ernst Klee nennt das Todeslager schlicht »das größte Genetiklabor der Welt«. Das Geheimnis des Lebens wollten die Forscher lösen - und halfen mit, es millionenfach auszulöschen.

Vieles liegt immer noch im Schatten. Unzählige Formalingläser gingen per Kurier ins Reich: Organe von Riesen, Kleinwüchsigen und Verwachsenen schwammen darin. Der Häftlingsarzt Sigismond Hirsch berichtete, dass über hundert Zwerge in Mengeles Laborblock lebten. Über ihren Verbleib ist nichts bekannt.

An Details mochte sich nach dem Krieg niemand mehr erinnern. Der Hauptbeschuldigte verschwand nach Südamerika; Butenandt schwieg; Verschuer warf den Reißwolf an. Als im Frühjahr 1945 die Sowjets auf Berlin zurollten, gab er Befehl, alle »Geheimakten« zu vernichten. Die dürften »auf keinen Fall in Feindeshand fallen«.

Die Vertuschung hatte Erfolg: Die altgedienten Professoren traten alle wieder an.

Verschuer stieg in der jungen Bundesrepublik zum Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für Anthropologie auf. Butenandt war bis 1972 Präsident der Max-Planck-Gesellschaft. MATTHIAS SCHULZ

* Im Harnack-Haus der Max-Planck-Gesellschaft 2003 in Berlin.* Hans-Walter Schmuhl: »Grenzüberschreitungen - DasKaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre undEugenik 1927 bis 1945. Wallstein Verlag, Göttingen; 304 Seiten; 25Euro (erscheint im April).* Beim Messen des Lungenvolumens von Zwillingen (Foto für die»New York Times« von 1928).

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