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MEDIZIN Tod auf der Warteliste

Zwischen deutschen Intensivmedizinern und Transplanteuren ist ein Streit entbrannt: Wer ist schuld am drastischen Mangel an Spenderorganen?
aus DER SPIEGEL 11/2005

Gaby Schiffbauer-Wagner, 50, hat sich eingerichtet mit ihrer Krankheit. Wenn sie das Haus verlässt, trägt sie stets einen Rucksack mit einem Sauerstoffbeutel. Über eine Spezialbrille wird ihr auf diesem Weg zusätzlich Atemluft in die Nase gepumpt.

Das ist notwendig, denn die Lunge der ehemaligen Realschullehrerin verfügt nur noch über 26 Prozent ihrer ursprünglichen Leistungskraft. Schiffbauer-Wagner leidet unter Lymphangioleiomyomatose (LAM), einer seltenen Krankheit, bei der wuchernde Muskelzellen die Lungenbläschen verdrängen.

Irgendwann, so hofft die Pädagogin aus Hannover, werden die Strapazen ein Ende haben: Sie wartet auf die Transplantation einer neuen Lunge. Doch niemand kann ihr sagen, wann sie das dringend benötigte Organ bekommen wird. Seit neun Monaten steht sie auf der Warteliste, und die psychische Belastung steigert sich Tag für Tag. »Das hängt wie ein Damoklesschwert über mir«, sagt sie. Die neue Lunge könne schon morgen zur Verfügung stehen, »vielleicht aber auch erst in zwei Jahren«.

So wie Gaby Schiffbauer-Wagner geht es vielen tausend Menschen in Deutschland - eine Existenz zwischen Leben und Tod und stets in Wartestellung auf den ersehnten Anruf, dass endlich ein geeignetes Organ zur Verfügung steht.

Im Dezember musste die Bundesregierung eingestehen, dass sich die Situation schwerkranker Herz-, Lungen-, Nieren- und Leberpatienten in Deutschland seit der Verabschiedung des Transplantationsgesetzes vor sieben Jahren nicht verbessert hat. Kaum mehr als 1000 hirntote Organspender werden alljährlich gemeldet; im Jahr 2004 waren es sogar noch einmal 59 weniger als im Jahr zuvor. Rund ein Drittel der 12 000 Menschen auf der Warteliste, so die Prognose, wird sterben, ehe ein geeignetes Organ gefunden ist.

Die Ursachen für die Misere sind vielfältiger Art. Eigentlich hatten sich Transplanteure und Patientenverbände eine deutliche Verbesserung von dem Gesetz erhofft. Doch bald zeigte sich: Die Verteilung der Organe war zwar gerechter geworden, doch damit zugleich auch anonymer. So akquirierten die Transplantationszentren ihre Organe früher zu einem erheblichen Teil im Umland, während sie heute ausschließlich über die internationale Zentrale Eurotransplant verteilt werden.

»Damals«, erzählt Axel Haverich, Chef-Transplanteur an der Medizinischen Hochschule Hannover, »hat die Zusammenarbeit mit den umliegenden Häusern zumindest in meiner Region hervorragend geklappt: Da bin ich abends mit einem Transplantierten und einem Patienten von der Warteliste durch die umliegenden Kliniken getingelt und habe so die Ärzte dort vom Sinn der Organspende überzeugt.«

Nun droht auch noch eine andere Quelle zur direkten Beschaffung von Organen zu versiegen: die sogenannten Twinning-Programme, in denen deutsche und osteuropäische Kliniken zusammenarbeiten. »Wir bringen zum Beispiel polnischen Ärzten das Transplantieren bei. Dafür bekommen wir von dort Organe«,

berichtet Haverich. Inzwischen ist jedoch ein Streit entbrannt, ob nicht auch diese Lungen, Nieren oder Lebern über die zentrale Verteilungsstelle Eurotransplant verteilt werden müssten.

Die Hauptverantwortlichen für den Organmangel aber sitzen an anderer Stelle, darin ist sich Haverich mit Günter Kirste, dem Vorsitzenden der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO), einig: Schuld seien vor allem die vielen Krankenhäuser, die eine Zusammenarbeit mit den Transplanteuren verweigerten. 40 Prozent der 1400 deutschen Klinken mit Intensivstationen, klagt Kirste, »machen bei der Rekrutierung von Organspendern nicht mit. Da wird teilweise richtig gemauert«.

Niemand weiß genau, wie viele der rund eine Million Toten pro Jahr für eine Organspende in Frage kämen. Doch ein schlichter Ländervergleich lässt zumindest die Dimension erahnen: In Nordrhein-Westfalen wurden 2004 pro eine Million Einwohner 8,6 Tote zu Organspendern, in Mecklenburg-Vorpommern waren es dagegen 36,5 - fast viermal so viele.

Kein Zweifel: Die Möglichkeiten der Organgewinnung sind bei weitem nicht ausgeschöpft. Der Transplantationsbeauftragte einer norddeutschen Klinik sagt, warum: Zum einen bitte niemand gern Trauernde, die soeben einen Angehörigen verloren haben, um dessen Organe. Hinzu komme der Widerstand unter den Doctores. Da gebe es

* den »Gruselfaktor": Mit Organentnahme wollen Ärzte am liebsten nichts zu tun haben;

* das »Chefarztproblem": Hirntote Privatpatienten bleiben häufig grundsätzlich verschont;

* die »Inkompetenz": Vielen Medizinern ist nicht bekannt, dass selbst 80-Jährige als Spender noch in Frage kommen;

* den »Schuldkomplex": Niemand lässt gern Kollegen an einen Patienten, den er soeben medizinisch aufgeben musste;

* »mangelnde Sensibilität": Im entscheidenden Moment denkt manch ein Arzt nicht daran, Hirntote am Leben zu halten;

* das »Imageproblem": Krankenhäuser befürchten, in den Ruf zu geraten, tote Menschen auszuweiden.

Die Kliniker wollen den Vorwurf mangelnder Kooperation nicht auf sich sitzen lassen. In ihren Augen sind die Transplanteure selbst nicht unschuldig an der Notlage. Eine lange »Liste von Ungereimtheiten« etwa legt Hans Fred Weiser, Präsident des Verbandes der Leitenden Krankenhausärzte (VLK), der DSO zur Last. Wenn die Stiftung ihre Politik nicht merklich ändere, rechne er sogar mit einem weiteren »Rückgang der realisierten Organspende um 20 bis 30 Prozent«.

So moniert Weiser, dass die DSO keine mobilen Teams mehr zur Verfügung stelle, die rund um die Uhr rufbereit sind, um bei einem Patienten den Hirntod zu diagnostizieren. Zudem kritisiert der VLK-Präsident, die DSO-Spitze setze sich nicht hinlänglich mit den ethischen Fragen auseinander, die mit der Transplantation einhergehen.

Hinzu kommt, dass Skandale am Image der Chirurgen kratzen, deren Starallüren und hemdsärmelige Methoden von vielen Medizinern ohnehin mit Misstrauen beobachtet werden. So sah sich die Münchner Uni gezwungen, ein Disziplinarverfahren gegen Walter Land einzuleiten. Der Transplanteur war im Mai 2003 - unangemeldet und ohne Genehmigung - mit fünf Ärzten und drei Schwestern 16 Tage lang in die Vereinigten Arabischen Emirate gereist, um einem Mitglied des Herrscherhauses eine Niere zu verpflanzen.

Der Essener Starchirurg Christoph Broelsch wiederum setzte einem israelischen Patienten die Niere eines Moldawiers ein. Weil die Ethikkommission seiner Universität Bedenken gegen diese »kitzlige Sache« (Broelsch) hatte, ging der Chirurg kurzerhand zu seinem Kollegenfreund Johannes Scheele nach Jena und operierte eben dort. Gegen Scheele wiederum ermitteln Staatsanwälte. Er hatte unter anderem wochenlang seine Klinik bei Eurotransplant als »nicht transplantationsbereit« abgemeldet, ohne den Patienten auf der Warteliste Bescheid zu geben.

Aber nicht nur Mediziner, auch Patienten äußern Kritik an der DSO. Peter Gilmer, 60, ist Vorsitzender der Dialysepatienten Deutschlands. 1997 hatte er große Hoffnungen in das neue Transplantationsgesetz gesetzt. Immerhin verpflichtete es nun die Krankenhäuser zur Organ- gewinnung.

Doch nicht kürzer, sondern sogar noch länger wurden die Wartelisten. Die DSO, die eigentlich den gesetzlichen Auftrag hat, die Organtransplantation zu fördern, kümmere sich schlichtweg zu wenig, klagt Gilmer. Deshalb hat er im November einen Beschwerdebrief an den DSO-Stiftungsrat geschrieben. DSO-Chef Kirste interessiere sich offenbar vorrangig für die Rekrutierung lebender Spender, klagte Gilmer darin. Seine eigentliche Aufgabe, nämlich die Organübertragung von Toten auf Schwerkranke zu forcieren, komme unter seiner Führung nicht voran.

Gilmers Brief berührt ein heikles Thema in der Organtransplantation: das Verhältnis der Lebend- zur postmortalen Spende. Bis vor einigen Jahren war die Übertragung von Leichenorganen die Regel. In den letzten Jahren jedoch ist die Transplantation von Nieren und Leberteilen eines gesunden Menschen auf einen kranken extrem angestiegen. Mediziner wie Kirste begründen dies mit dem Mangel, der an postmortalen Organen herrsche.

Die Wahrheit aber ist auch, dass sich mit Lebendspenden deutlich mehr Einnahmen erzielen lassen. Bei Lebern etwa können die Kliniken dafür rund 30 000 Euro mehr abrechnen als für eine Transplantation mit dem Organ eines Verstorbenen. Zudem ist die Lebendspende bequemer: Operationstermine stehen lange im Voraus fest, sie lassen sich deshalb langfristig in den Stundenplan der Klinik einbauen.

Dennoch sollten Lebendspenden laut Gesetz die Ausnahme bleiben, weil sie stets die Gefahr des kommerziellen Organhandels in sich bergen. Erst vergangene Woche sprach sich die Medizinethik-Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages mit großer Mehrheit gegen eine Ausweitung der Lebendspende aus.

Viele Kliniker waren deshalb erstaunt, als vor einem knappen Jahr mit dem Tübinger Transplanteur Kirste ausgerechnet ein glühender Verfechter der Lebendspende zum DSO-Chef bestimmt wurde. Seine Aufmerksamkeit, so Gilmers Vorwurf, gelte fast ausschließlich diesem seinem Spezialgebiet. Die Kritik ließ auch Kirste nicht unberührt. Er hat inzwischen einen Kurswechsel beschlossen und will sich nun verstärkt darum kümmern, hirntote Spender zu gewinnen.

Dazu wollen Kirste und Haverich künftig eine andere Tonlage im Kontakt mit den Organlieferanten anschlagen. »Wir sollten gegenüber den regionalen Krankenhäusern nicht mehr als Bittsteller auftreten«, sagt Haverich. Die gesetzliche Pflicht zur Zusammenarbeit müsse nun durchgedrückt werden - zur Not auch mit finanziellen Sanktionen.

VERONIKA HACKENBROCH, UDO LUDWIG

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