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Arzneimittel Tod aus der Ampulle

Neuer Pharmaskandal: Ein angeblich schonendes Schmerzmittel brachte Dutzende von Patienten ums Leben.
aus DER SPIEGEL 25/1993

Als das neue Schmerzmittel im Januar letzten Jahres auf den deutschen Markt kam, wurde es von der ärztlichen Fachpresse als eine Art Pharmawunder begrüßt: Toratex, hieß es, vertreibe Schmerzen so gründlich wie sonst nur Morphium, löse aber weder Suchteffekte noch Bewußtseinstrübungen aus.

Begeistert von Toratex, einem Produkt des amerikanischen Chemiemultis Syntex, zeigte sich auch Professor Heinrich Hess aus Saarlouis, der den Schmerztöter in seiner Klinik an 60 frisch operierten Patienten erprobt hatte - mit »überlegenem Erfolg«, wie der Orthopäde auf einem Syntex-Symposium im schwedischen Göteborg berichtete. Schädliche Nebenwirkungen hatte Hess, Teamarzt der deutschen Fußballnationalelf, bei dem klinischen Test in keinem Fall beobachtet.

Die ärztlichen Lobeshymnen auf Toratex - Firmenwerbung: »Trifft den Schmerz und nicht den Patienten« - sind inzwischen verstummt. Alarmmeldungen aus aller Welt signalisieren, daß der angeblich so segensreiche Schmerzstiller ein Pharmadesaster verursacht hat.

Auf Intensivstationen chirurgischer Kliniken registrieren die Mediziner eine furchterregende Fülle schwerer Komplikationen, die im Zusammenhang mit einer Toratex-Behandlung auftraten, darunter Lungenentzündungen und Schockzustände, Nieren- und Leberversagen, Magen- und Darmgeschwüre, unstillbare Blutungen sowie Asthmaanfälle bis zum Atemstillstand. Mindestens jeder 10 000. Patient, so schätzen mittlerweile Experten, bezahlt die Toratex-Therapie mit dem Leben.

Am 10. Juni teilte das Berliner Bundesgesundheitsamt (BGA) der deutschen Syntex-Niederlassung in Aachen mit, es beabsichtige, dem Präparat in allen Darreichungsformen die Marktzulassung zu entziehen. Risiken der Toratex-Behandlung, so das Schreiben, »die bereits zum Zeitpunkt der Zulassung bekannt waren, sind nach nunmehr vorgelegten Untersuchungsergebnissen mit unvertretbar hoher Häufigkeit und Schwere aufgetreten« - die Bilanz der BGA-Beamten: 73 Todesfälle und 923 Berichte über zum Teil lebensbedrohliche Nebenwirkungen.

Therapeutische Vorteile, die das hohe Risiko aufwiegen würden, weist Toratex nach Ansicht der Berliner Arzneimittelwächter nicht auf; gefährdet sind laut BGA-Fazit besonders ältere Patienten und solche, die das Mittel über einen längeren Zeitraum erhalten.

Bedenken gegen die Syntex-Novität hatte, schon im Juli 1992, der Berliner Pharmakritiker Ulrich Moebius erhoben. In dem von ihm herausgegebenen Branchendienst Arznei-Telegramm warnte Moebius seither wiederholt davor, daß der Toratex-Wirkstoff Ketorolac pharmakologisch verwandt ist mit dem Schmerzmittel Zomax, das wegen gefährlicher Nebenwirkungen vom Markt genommen werden mußte.

Toratex-verwandte Wirkstoffe, von denen insgesamt ein halbes Dutzend wegen unsteuerbarer Risiken nicht mehr im Handel sind, weisen allesamt dieselbe Tücke auf: Sie drosseln die Durchblutung der Nieren, mit verheerenden Folgen für den Organismus. Weil die Ausscheidungsorgane durch Narkose, Streß, Eigen- und Fremdgifte im »Postaggressionsstoffwechsel« überfordert sind, kann sich eine solche Entsorgungskrise unmittelbar nach chirurgischen Eingriffen fatal auswirken.

Speziell in dieser Streßsituation sollte Toratex laut Empfehlung des Herstellers bevorzugt eingesetzt werden - zur Behandlung »postoperativer Akutschmerzen«. Für Kritiker Moebius ("Toratex beseitigt Schmerzen und Patienten") war damit der Weg in einen neuen Pharmaskandal vorgezeichnet.

Der allerdings war längst im Gange, als Toratex auch in Deutschland auf den Markt kam. Seit Beginn der weltweiten Vermarktung im März 1990 waren schon rund 16 Millionen Patienten mit dem Schmerzkiller behandelt worden - ein Millionengeschäft für den ansonsten kränkelnden Pharmamulti mit Sitz in Palo Alto (Kalifornien), der demnächst jeden sechsten Arbeitsplatz abbauen will.

Hartnäckig trotzten die Syntex-Manager den Unheilsbotschaften, die unentwegt in der Firmenzentrale eintrafen. So offenbart eine (noch unvollendete) Studie, vorgelegt vom Delaware Valley Hospital Network in Philadelphia, nach Auswertung von rund 3000 Krankengeschichten, daß bei etwa jeder 250. Toratex-Behandlung mit ernsten Komplikationen zu rechnen ist.

Doch statt mit Rückzug reagierte die Firmenleitung mit einer PR-Offensive: »Betonen Sie die Syntex-Kompetenz auf dem Gebiet der Schmerzmittel«, riet noch im April die Aachener Syntex-Tochter ihren Pharmareferenten. Für die Behandlung des besonders lästigen Kritikers Moebius legte die Europa-Zentrale des Konzerns einen »Aktionsplan« vor, der drei Optionen vorsah: »Suchen Sie ein persönliches Gespräch« oder »Verklagen Sie ihn«; und wenn beides nicht hilft: »Kaufen Sie ihn.«

Der dreiste Plan half ebensowenig wie etwa ein »Schmerztelefon«, das Syntex für mißtrauisch gewordene Journalisten und Ärzte einrichtete. »Die Situation in Europa verschlechtert sich, wir müssen uns darauf einrichten, daß die Presse davon Wind bekommt und das Fernsehen berichtet«, hieß es im Februar in einem Rundbrief an die Syntex-Filialen.

Das befürchtete Ungemach ist inzwischen eingetroffen. Firmen-Interna aus London, darunter ein Toratex-Sicherheitsbericht vom 4. Dezember 1992, gelangten in den Besitz des Syntex-Kritikers Moebius. Das Papier, eine lange Liste mit Toratex-Zwischenfällen, liest sich laut Moebius »wie ein Euthanasieprogramm für Hochbetagte« - auch ein Hundertjähriger ist dort verzeichnet, der nach einem Schuß aus der Toratex-Ampulle verschied.

Doch die Zahl der von Syntex gesammelten Todesfälle, glaubt Moebius, zeige das wahre Ausmaß des Desasters nur unvollkommen; er rechnet mit einer hohen Dunkelziffer, die auch vom Berliner Bundesgesundheitsamt nicht berücksichtigt werde. Vor allem bei den alten, meist schwerkranken Patienten bleibe die tödliche Toratex-Wirkung vermutlich in vielen Fällen unentdeckt.

Auf die BGA-Mitteilung, die der Firma eine Frist von drei Wochen für eine Antwort einräumt, reagierte die deutsche Syntex mit einem sogenannten Rote-Hand-Brief an alle Ärzte. »Bis zur Klärung der Sachlage«, heißt es darin, verzichte das Unternehmen freiwillig auf den Vertrieb von Toratex.

»Mit der Absicht des Bundesgesundheitsamtes, die Zulassungen zu widerrufen«, sei die Firma jedoch »nicht einverstanden«, weil »die berichteten Ereignisse« auch »Folge der Grunderkrankung sein können«. Nach Überzeugung der Syntex bleibt Toratex auch weiterhin »ein nützliches Analgetikum«.

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