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RECYCLING Truthähne zu Erdöl

Eine US-Firma hat eine Anlage entwickelt, mit der sie Schlachtabfälle, Plastikmüll und alte Computer in Öl und andere Rohstoffe verwandelt. Eine erste Fabrik ist bereits in Betrieb. Nun sucht die Firma nach Kunden in aller Welt - vor allem in Deutschland.
aus DER SPIEGEL 25/2003

Gott verhüte, dass Brian Appel stolpert und in den Mahlwerkstrichter fällt. Wenig später könnten die Mitarbeiter am anderen Ende der Halle auffangen, was vom Chef noch übrig ist: etwa 22 Liter leichtes Erdöl (von der Qualität eines guten Diesels), je vier Kilogramm Gas und teure Mineralstoffe, darunter Kalzium und Magnesium. Und schließlich knapp 63 Liter sterilisiertes Wasser - durchaus trinkbar, wenn man es filtert.

Zum Glück steigt Appel, ein Mann von 90 Kilo, wieder wohlbehalten vom Trichterpodest herunter. Das Mahlwerk wummert gleichmütig dahin. Tagein, tagaus zerschrotet es alles, was Appels Leute einfüllen: Altreifen, Computerschrott, Truthahngekröse. Rohrleitungen führen zu einer Reihe von Druckkesseln und Hitzereaktoren weiter hinten in der Halle.

»Nicht das Mindeste geht bei uns verloren«, ruft Appel frohgemut durch den Lärm und deutet in einen Winkel. Dort stehen die Tanks, in denen am Ende einläuft, was aus all dem Abfall geworden ist: lauter wertvolle Rohstoffe wie Öl, Gas und Mineraldünger. Appel, Chef der US-Firma CWT, glaubt fest daran: Das ist die Zukunft des Mülls.

Die Pilotfabrik von CWT liegt im alten Marinehafen von Philadelphia. Hinter den Toren geht es zu wie in einer Erdölraffinerie, nur dass hier andere Stoffe veredelt werden. Selbst städtischer Klärschlamm ist bereits durchgelaufen. Gemischter Plastikmüll, so zeigte sich, liefert am meisten Öl. Aber auch Teersande oder heikle Krankenhausabfälle, versetzt mit Giften und Antibiotika, sind nicht zu verachten.

Im Mahlwerk wird alles zu einem Mus, das dann, Station für Station, durch die Anlage gepumpt wird - stets unter Luftabschluss. Hier etwas Hitze, dort etwas Druck, sagt Appel, »und am Ende hat sich jede Pampe zu sauberem Erdöl zersetzt«. Nebenher zweigt die Firma Mineralien und brennbare Gase ab.

Für einen Chemiker ist das kaum verwunderlich. Ähnlich entsteht das fossile Öl in den Tiefen der Erdkruste. Abgestorbene Pflanzen und Tiere verwandeln sich in Brennstoff - vorausgesetzt, der Druck ist hoch, die Hitze mäßig und der Sauerstoff knapp. Die Organismen verwesen dann nicht; statt dessen zerfallen ihre komplexen Moleküle zu den kürzeren Kohlenwasserstoffketten von Erdöl und Erdgas.

Die Kunst besteht darin, binnen Stunden wohl dosiert nachzuspielen, was in der Natur Jahrtausende dauert. Gelingt es, ist kaum ein Abfall so minderwertig, dass er nicht begehrte Rohstoffe hervorbrächte - in der Theorie.

Zu wundersam, um wahr zu sein? Die Firma trägt auch noch einen Namen, der eher nach fahrenden Bibelverkäufern klingt: CWT steht für »Changing World Technologies«. Gleichwohl eröffnet das Unternehmen in diesen Tagen eine große Fabrik, die jeden Tag zwei Tankwagenladungen Öl aus Truthähnen gewinnt. Baukosten: 20 Millionen Dollar. CWT hat sich dafür mit dem Lebensmittelriesen Conagra zusammengetan, der normalerweise kein Geld für Flunkereien übrig hat.

Die gemeinsame Anlage steht im Städtchen Carthage (Missouri), wo Conagra schon lange eine riesige Geflügelschlachterei betreibt. Tag für Tag lassen dort rund 30 000 Truthähne ihr Leben. Zurück bleiben 150 Tonnen Fett, Knochen, Federn, Blut. Bislang wurden die Schlachtabfälle zu Tiermehl verarbeitet oder verbrannt. Für CWT aber kommt der schauerliche Unflat einer Ölquelle gleich, die so schnell nicht versiegt.

Gleich neben der Schlachterei erhebt sich bereits die neue Truthahn-Raffinerie. Dort werden die Geflügelreste zermalmt und dann durchs Geschlängel der Rohre gepumpt. Am Ende, nach einigem Sieden, Zischen und Glucksen, ist der Tagesertrag der Verwandlung in den Tanks von CWT gelandet: 7 Tonnen Dünger, 9 Tonnen Gas und gut 500 Barrel Öl (rund 80 000 Liter).

Damit will die Firma ihr Geschäft machen. Für ein Barrel Truthahn-Öl rechnet sie mit einem Aufwand von knapp 15 Dollar. Solange sich der Marktpreis für Rohöl zwischen 20 und 30 Dollar bewegt, wäre das gerade noch günstig genug.

Die Rezeptur für das Öl aus nachwachsendem Federvieh stammt aus der Versuchsküche von Philadelphia (siehe Grafik): Zunächst wird der Brei aus dem Mahlwerk unter hohem Druck auf rund 300 Grad Celsius erhitzt. Dabei spalten sich bereits die längsten Kettenmoleküle. Dann befördern Pumpen die Masse in den nächsten Kessel, wo jäh der Druck fällt - unter dem Schock zerplatzen die organischen Zellen; fast die Hälfte des Wassers verdampft. Die meisten Feststoffe, etwa Mineralien, sinken zu Boden und werden abgeschieden. Übrig bleibt eine zähe, zuckerhaltige Flüssigkeit, die schon ganz nach Rohöl aussieht (und noch übler riecht).

Appel entkorkt einen Flakon mit schwarzer Truthahnpampe. Schwaden steigen auf wie von tausend Jahren Verrottung und Pestilenz - umspielt von einer Note gebrannten Karamells. Diese Mixtur wandert nun in den zweiten Reaktor, wo die Temperatur auf rund 500 Grad steigt.

»Ab jetzt geht es nicht mehr viel anders zu als in einer Erdölraffinerie«, sagt Appel. »Lauter erprobte Verfahren.« Am Ende stehen drei Kondensationstürme, aus denen die Ausbeute gezapft wird: Unten rieselt ein schwarzes Pulver heraus - Aktivkohle, brauchbar für Autoreifen oder Schadstofffilter. Gleich über der Kohle schlägt sich das Wasser nieder, etwa in der Mitte des Turms dann das Öl. Das Gas, das ganz oben entweicht, ist nicht zum Verkauf bestimmt. Es liefert die Energie für Heizkessel und Pumpen.

Die Anlage, versichert Appel, wird auch mit Kuhmist fertig und mit Maisstängeln, kurzum: mit organischen Abfällen aller Art, wie sie auf den amerikanischen Großfarmen in verlockenden Mengen anfallen. Selbst die Klärwerke der Kommunen, meint der Geschäftsführer, bergen in ihren Faultürmen stoffliche Werte, die zu Unrecht missachtet werden.

Und schon biegt, wie gerufen, ein neuer Kunde um die Ecke: ein Abgesandter der Stadtverwaltung von Philadelphia. In ihrem Auftrag entwickelt CWT gerade ein Zersetzungsverfahren, das den gesamten Klärschlamm der Millionenstadt veredeln könnte - 800 Tonnen täglich.

Die Firma aber denkt schon weit über die Welt der Misthaufen und Klärbecken hinaus. Sie will ihre Technik auch auf Kunststoffmüll im Großmaßstab anwenden. Ein Teil der alten Plastiktüten, Telefongehäuse und Autositzbezüge wird zwar bislang aufwendig sortiert und in Lärmschutzwände und Abwasserrohre verwandelt. »Aber große Mengen wandern einfach in die Verbrennungsöfen und produzieren Abgase, die teuer gereinigt werden müssen«, sagt Appel. »Da wüssten wir was Besseres.«

In der Chemie ist der Unterschied zwischen Truthähnen, Klärschlamm und Plastiktüten nicht sonderlich groß: Letztere bestehen ebenfalls aus Kohlenstoffverbindungen, genannt Polymere. Sie können in das Erdöl zurückverwandelt werden, aus dem sie einst entstanden sind.

Das ist der alte Traum vom Wirtschaften im geschlossenen Kreislauf: Wer das Öl für neue Tüten aus den alten gewinnt, kann die natürlichen Vorkommen schonen, ehe sie irgendwann erschöpft sind. Werden also die Ölgiganten mit ihren Raffinerien bald an den Müllkippen siedeln - vielleicht mit angeschlossener Truthahnfarm für unerwartete Bedarfsspitzen?

Im Prinzip ist das endlose Verwandeln kein Problem, im Detail sehr wohl. Nicht umsonst ist die Geschichte solcher Verfahren reich an Pleiten. Die Nazis verflüssigten bis 1945 ganze Kohlehalden zu Ersatzbenzin für die Kriegswirtschaft - aber nur, weil sie vom Erdöl weitgehend abgeschnitten waren. In den Neunzigern erprobten die Konzerne Veba und BASF die Verwandlung von Mischkunststoffen bei großer Hitze und Luftabschluss. Beide Versuche wurden eingestellt - zu kostspielig im Vergleich zur Förderung fossilen Öls. Dennoch streben Scharen von Tüftlern weiterhin nach Gas aus Stroh, Benzin aus Gras oder Rohöl aus Altreifen.

Das Umweltbundesamt in Berlin beobachtet den Verwandlungsdrang mit Skepsis. »So effizient, wie es in den Papieren steht, hat das noch nie geklappt«, sagt der Abfallexperte Markus Gleis. Und das neue Verfahren aus den USA? »Ich will der Firma gar nicht absprechen, dass sie vielleicht auf dem richtigen Weg ist. Aber plötzlich wächst sich dann doch ein kleines Problem zu einem großen aus. Oder die Produkte sind einfach zu teuer.«

CWT-Chef Appel sieht das auch so - was die Fehlversuche von ehedem betrifft. »Die wollten alles auf einmal: die Polymere zerlegen und dabei gleich den nassen Abfall trocknen«, sagt er. Das geht freilich nur bei starker Hitze. Oft war der Energieaufwand fast so hoch wie hinterher der Ertrag.

Die Firma CWT geht deshalb in zwei Schritten vor. »Zuerst geben wir sogar noch Wasser hinzu, wenn die Pampe nicht nass genug ist«, sagt Appel. »Wasser ist unser Freund.« Auf diese Weise genügt nämlich unter Druck eine niedrige Temperatur - der Abfall wird gleichmäßig durchwärmt.

Bei mäßiger Hitze bleiben die Reaktionen im Abfallgebräu auch besser unter Kontrolle, zumal wenn sie in wässriger Lösung ablaufen. Einen großen Teil des Kunststoffmülls macht zum Beispiel PVC aus. Darin aber ist Chlor enthalten, das beim Verbrennen zu hochgiftigem Dioxin werden kann. Das Öl, das die Firma gewinnt, muss deshalb frei von Chlor sein. Es gilt, das Element beizeiten unschädlich zu machen. Da kommt das Wasser gerade recht: Chlor verbindet sich mit Wasserstoff bereitwillig zu Salzsäure - auch das eine verkäufliche Chemikalie, etwa als Grundstoff für Reiniger.

Dennoch hatte die Firma CWT lange zu knobeln. »Wir kriegten einfach das Chlor nicht richtig raus«, sagt Appel. Immerzu blieb ein Rest, der die strengen Grenzwerte übertraf. Nun aber sei alles im Griff, beteuert der Geschäftsführer, »keine Probleme mehr«. William Lange, Chefingenieur, ist dagegen »schon froh, dass wir zunächst mal mit Truthähnen anfangen können«.

In der Pilotfabrik von Philadelphia, nimmt es die Firma dennoch schon mit weit heikleren Gegnern auf: Hier landen sogar ausrangierte Computer probeweise im Mahlwerk.

Bislang allerdings sind Altcomputer - wie auch Mobiltelefone - der Schrecken aller Entsorger. In den Innereien der Geräte sind Hunderte verschiedener Stoffe verschraubt, verklebt oder verlötet. Viele Kunststoffgehäuse enthalten Brom, ein starkes Gift, das als Flammschutzmittel dient. Es ist noch schwieriger zu bändigen als Chlor. Ob die Firma CWT mit ihrer schlichten Rezeptur - Hitze, Druck und Wasser - wohl damit fertig wird?

»Die Chemie des Mülls ist unglaublich komplex«, sagt Ernst Stadlbauer, Professor an der FH Gießen. »Da entstehen ständig neue Substanzen, die dann wieder überraschende Reaktionen auslösen.«

Stadlbauer muss es wissen. Er hat ebenfalls ein Verfahren entwickelt, das bei niedrigen Temperaturen Öl aus Abfall gewinnt. Er beschränkt sich aber wohlweislich auf Tiermehl und sonnengetrockneten Klärschlamm.

Auch die Firma CWT räumt ein, dass es schwierig wird, wenn zu viele Stoffe durcheinander ins Mahlwerk geraten. »Die Truthähne übernehmen wir kostenlos«, sagt Geschäftsführer Appel. »Aber bei gemischtem Siedlungsmüll müssten wir schon einiges berechnen.« Dennoch beteuert die Firma, dass sie jede Konkurrenz unterbieten kann. Sie hat ja auch noch den Verkaufserlös ihrer Produkte. Für Markus Gleis vom Umweltbundesamt ist das noch keine Erfolgsgarantie. »Das funktioniert nur«, sagt er, »wenn sich Abnehmer finden für die kleinen Mengen, die solche Werke anbieten können.«

Immerhin hat eine Gruppe von Investoren bereits 40 Millionen Dollar vorgestreckt; dazu kommen etwa 12 Millionen an staatlicher Förderung. Illustre Köpfe wurden als Berater eingeworben, darunter James Woolsey, ehemals Chef des Geheimdienstes CIA. Sie alle wetten auf eine Zukunft, in der es Abfälle im Überfluss gibt, während die Rohstoffe immer knapper werden.

Der Handlungsdruck steigt auch in Deutschland. Von Juni 2005 an dürfen auf den Mülldeponien keine »unbehandelten Siedlungsabfälle« mehr gelagert werden. Das heißt: nichts, was mal grün war oder noch brennen kann, nichts Biologisches und auch kein Plastik. Zwei Drittel des Hausmülls fallen in diese Kategorie.

Wohin dann damit? Der viel gepriesene Biogas-Reaktor für organische Abfälle hinterlässt eine Menge Restschlamm, den man nicht in alle Ewigkeit auf die Felder schütten kann, zumal er oft Schwermetalle enthält. Die Müllverbrennung hingegen ist teuer und setzt Treibhausgase frei.

Die Firma CWT blickt deshalb schon zukunftsfroh nach Deutschland. »Das ist der interessanteste Auslandsmarkt für uns«, sagt Geschäftsführer Appel. Strenge Grenzwerte und eine grüne Partei in der Regierung verheißen hier besonders reichen Input für die Einfülltrichter.

In Italien hat CWT bereits Fuß gefasst: In der Nähe von Parma, sagt Appel, entsteht nächstes Jahr eine Ölfabrik, die mit Schweineresten und den Abfällen einer Großkäserei gespeist wird. Der Kunde, ein Lebensmittelkonzern, habe inzwischen Bedarf für 14 weitere Anlagen angemeldet. MANFRED DWORSCHAK

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