Todesarten Überaus letal
Kurz ist die dem Menschen hienieden bewilligte Zeit. Denn neben Krankheit und Siechtum hält das Leben, dieses ewige Exerzierfeld des Schicksals, viele andere Arten des Todes bereit - sehr zur Freude der Pathologen, die nichts mehr lieben als eine »schöne Leiche«, einen besonders kniffligen Fall.
Glücklich, niemals einen lebenden Patienten sehen zu müssen, wirkt der forensische Mediziner vornehmlich im Keller, wo in den meisten Krankenhäusern der Sektionssaal liegt.
Am Ende seines eigenen Lebens hat er im Durchschnitt über 20 000 Leichen obduziert und vom Tod all das erblickt, was sich mit Messer, Meißel und Elektrosäge freilegen läßt: Matschhirne, Schußherzen, Stichlungen, Rißlebern, Giftmägen und dazu jede Menge Organe, die bösartig vergrößert sind.
Wissenschaftlichen Kontakt hält die internationale Zunft der Obduzenten durch Veröffentlichungen im American Journal of Forensic Medicine and Pathology, einem der teuersten Fachblätter der Welt, das einmal im Quartal erscheint. Vollständig ist der Überblick über die bemerkenswertesten Todesvarianten des jeweils abgelaufenen Jahres aber erst, wenn im Dezember der Index des Journals publiziert wird.
Für 1993 ist der Schlagwortkatalog besonders reichhaltig, die Art der darin bezeichneten Todesfälle überdurchschnittlich bizarr.
Stichwort »Herzbeuteltamponade": Eine gesunde 71jährige Japanerin wurde mit Kreislaufkollaps ins Krankenhaus eingeliefert. Das Röntgenbild zeigte eine von außen nicht sichtbare Nähnadel, welche die linke Herzklappe durchdrungen und den Herzbeutel mit Blut gefüllt ("tamponiert") hatte. Die Obduktion der noch vor der Operation verstorbenen Patientin ergab, daß die Nadel aus ihrem Kimono stammte. Sie war dort von der Patientin vergessen und aufgrund der engen Schnürung des Kleidungsstücks in den Leib hineingepreßt worden.
Stichwort »Elektrischer Schock": Ein 26jähriger Pastor einer Baptistengemeinde stand ritusgemäß bis zur Hüfte _(* Aus dem American Journal of Forensic ) _(Medicine and Pathology. ) im Wasser des Taufbeckens. Als ein soeben getauftes Gemeindemitglied das Becken verließ, fiel das Mikrofon (das 21 Volt Spannung führte) ins Wasser. Unverzüglich vorgenommene Wiederbelebungsversuche blieben ohne Erfolg.
Stichwort »Autoerotische Asphyxie": Ein 30jähriger Mann wurde im Keller seines Hauses erhängt aufgefunden. Sein Kopf war vollständig mit einer Bandage aus silbergrauem Klebestreifen (18 Lagen) ummantelt; die Beatmung erfolgte durch einen Luftschlauch aus Gummi.
Der Tote trug fünf Damenslips, vier Hüfthalter, einen Büstenhalter mit wassergefüllten Ballons, einen Bodysuit und ein Frauenkleid. Er hing an einer um seinen Hals geschlungenen Gliederkette, die so kurz war, daß er den Boden nur mit ausgestreckten Zehen erreichen konnte. Kurz vor Eintritt des Erstickungstodes ("Asphyxie") erfolgte eine Ejakulation.
Im Journal der Pathologen, die berufsbedingt zu einer besonderen Art von Launigkeit (sowie nicht selten auch zum Alkohol) neigen, hatte der ganz besonders schöne Leichnam sofort seinen Spitznamen weg: »Die Silberkugel«.
Dieser Star-Tote des Jahres 1993 erregte bei der gelehrten Leserschaft noch mehr Aufmerksamkeit als sein Vorgänger, der 1992 im Zuge eines nächtlichen Fabrikeinbruchs auf eine Weise ums Leben gekommen war, von der Genießer des Makabren noch heute schwärmen.
Beim Verlassen des Tatorts über ein nahe gelegenes Schrägdach fiel der arme Mann zuerst auf einen Schornstein (Wirbelbruch), von dort in einen Blitzableiter (Bauchruptur mit Darmaustritt) und dann in einen Sonnenkollektor (Augenverlust); schließlich rollte er über die Dachkante (Hodenabriß), stürzte hinab und blieb mit seiner Jacke an einer am Mauerwerk befestigten Fahnenstange hängen. Als man ihn dort bei Schichtbeginn entdeckte, war er längst erstickt.
»Überleben beim Hängen« - so lautet schon seit Jahren das Forschungsthema des Pathologen Kumar Pradeep aus Indien, wo sich die weitaus meisten Selbstmörder per Würgschlinge entleiben. In diesem Jahr hat sich Doktor Pradeep ausführlich mit der Frage beschäftigt, wie lange denn ein Suizident - oder ein Hingerichteter - hängen muß, bis er tot ist. Seine Antwort: mindestens 5, höchstens aber 30 Minuten.
So lange leiden muß das Opfer aber nicht, sofern die Schlinge richtig, also in Adamsapfelhöhe sitzt und mithin die Halsschlagader optimal blockiert. Dann schwinden ihm die Sinne schon nach zwei bis fünf Sekunden - weshalb Derrick Pounder aus Schottland zu dem Schluß kommt: »Die Schlinge ist eine überaus letale Methode des Suizids.«
Wie ein Mordbube schließlich an seinem Galgen, so hängt der kanadische Pathologe John Butt an seiner Lieblingsthese, die - landläufig formuliert - so lauten könnte: Skifahrer haben die Bretter nicht nur an den Füßen, sondern vielfach auch vor dem Kopf.
Anders ist nicht zu erklären, weshalb sie sich derart leichtfertig zu Tode bringen: Sie fliegen über Felsklippen hinaus in die Tiefe, zerschellen an Schneeraupen, zerbröseln im Gestänge von Strommasten, purzeln aus dem Skilift oder ersticken in der Piste - wie jener Skilehrer, der sich, Kopf voran, nach Art einer Horizontalrakete in eine Schneewehe bohrte, so daß nur noch seine Stiefel aus dem Weißen ragten. Am liebsten aber, so hat Butt festgestellt, lassen die schneidigen Unglücksfahrer ihr Leben an einem Baum.
»1993 hat uns viele wirklich interessante Fälle beschert«, resümiert Vincent DiMaio, Chefredakteur des Journal, in einem Geleitwort zum Jahresende. »Ich hoffe, 1994 wird ein ähnlich gutes Jahr, mit vielen schönen Ergebnissen und vor allem guter Gesundheit.« Y
* Aus dem American Journal of Forensic Medicine and Pathology.