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PSYCHIATRIE Verbotener Alptraum

Ein Dokumentarfilm über eine Anstalt für geisteskranke Straftäter in den USA ist durch Gerichtsbeschluß seit 20 Jahren unter Verschluß. Acht Todesfälle in der Anstalt geben dem Film neue Aktualität. *
aus DER SPIEGEL 33/1987

Die Szene scheint aus einem Horrorfilm: In einer kargen Einzelzelle führt ein Mann einen Veitstanz auf. Seine nackten Füße klatschen auf den Betonfußboden, immer wieder, rhythmisch, stundenlang. Er hat die Hand vor den Mund geschlagen - ob vor Entsetzen oder einfach nur so, ist nicht zu erkennen.

Zum Entsetzen hätte der Mann allen Grund: Seit 17 Jahren ist Jim in dieser Zelle aufbewahrt, tobt er gegen den kalten Betonfußboden an. Der wird - Ordnung muß sein - täglich mit einem Gummischlauch abgespritzt, denn Jim näßt unter sich.

In die Hose machen kann sich Jim dabei nicht, die Würde einer Hose ward ihm schon lange nicht mehr zuteil. Nackt ist er in all den 17 Jahren für die Wärter der Anstalt einfacher zu handhaben, sozusagen pflegeleichter.

Gefilmt wurden diese mittelalterlichen Zustände im Jahre 1967 in der Bridgewater Anstalt für geisteskranke Straftäter im amerikanischen Bundesstaat Massachusetts. Unter dem Titel »Titicut Follies« wurde der Filmbericht noch im selben Jahr bei den New Yorker Filmfestspielen uraufgeführt.

Als Autor zeichnet der Dokumentarfilmer Frederick Wiseman, 57, der inzwischen

mit 21 Filmen (darunter »Meat«, »Welfare«, »Canal Zone«, »Hospital« und »High School") zu internationalem Ruhm gelangt ist. Mehrere seiner Filme wie »Gesetz und Ordnung«, »Grundausbildung« oder »Jugendgerichtshof« liefen auch schon in den Dritten Programmen der ARD.

Doch nur 20 Wiseman-Filme werden in aller Welt vertrieben. Wisemans Erstlingswerk »Titicut Follies« (so genannt nach einem unter diesem Titel in Bridgewater jährlich veranstalteten makabren »Bunten Abend") ist nie über die Leinwände der internationalen Kinowelt geflimmert. Sechs Wochen nach seiner Premiere verbot ein Gericht in Massachusetts die öffentliche Vorführung von Wisemans »Bericht aus der Schlangengrube« ("Life"). Urteilsbegründung: Mit seiner schonungslosen Darstellung einzelner - vor allem nackter - Insassen habe Wiseman »die Privatsphäre dieser Menschen verletzt«.

Wiseman versuchte das Urteil zu Fall zu bringen - zumal, wie sein Anwalt erklärte, »kein einziger Bridgewater-Patient und auch kein Angehöriger eines Patienten« je Einwände gegen den Film erhoben hätten.

Wiseman legte Berufung ein, bezog sich auf das »First Amendment«, jenen Verfassungszusatz, der jedem Amerikaner freie Meinungsäußerung garantiert. Er gab 120000 Dollar an Rechtsanwaltsgebühren aus - vergebens. »Titicut Follies« blieb verboten, der einzige amerikanische Film, der jemals aus Gründen, die nichts mit Obszönität oder Gefährdung der nationalen Sicherheit zu tun haben, aus dem Verkehr gezogen wurde.

Der Tenor des Gerichtsentscheids, der den Dokumentarbericht aus der Anstalt als »einen Alptraum gespenstischer Obszönitäten« verdammt und ursprünglich sogar die Vernichtung des Filmmaterials verlangt hatte, läßt andere Gründe für das Verbot vermuten. Die Behörden des Staates Massachusetts, so nimmt Wiseman an, waren - obwohl sie zunächst die Erlaubnis zum Drehen des Films erteilt hatten - selbst erschrocken über das Ausmaß des Elends und über die Mißstände in der Anstalt.

Wisemans Dokumentarfilm, der scheinbar leidenschaftslos beobachtend den Tageslauf der Insassen hinter den Mauern von Bridgewater aufzeichnete, mußte jeden Betrachter zutiefst erschüttern.

Wie seine späteren Filme zeichnet sich auch »Titicut Follies« durch bewußte, fast krude Kunstlosigkeit aus und verzichtet auf jeden Kommentar des Autors. Auch von den üblichen Hilfs- und Stilmitteln - von der Musik bis zu kunstvoll-einfallsreichen Kameraeinstellungen - will der Dokumentarfilmer nichts wissen. »Das Leben selbst«, sagt Wiseman, »ist aufregend genug.«

Mit dem roh gebellten Kommando: »Zieh deine Kleider aus!« beginnt der Aufenthalt eines jeden Häftlings in Bridgewater. Hilflos und in vielen Fällen nackt sind die Insassen den rüden Scherzen des Pflegepersonals ausgeliefert: Ein Häftling wird von zwei Wärtern so brutal rasiert, als sei er bereits tot.

Die wohl eindringlichste Szene zeigt die Zwangsfütterung eines uralten Mannes durch einen Arzt, der vorher schon andere Insassen mit seinen neugierigsadistischen Fragen ("Wichst du gern anderen Männern einen ab?") geplagt hatte. Während der Doktor einen Gummischlauch in die Nase des Patienten preßt, droht die überlange Asche seiner Zigarette, die ihm aus dem Mundwinkel baumelt, direkt ins Gesicht des Patienten zu fallen.

Diese schonungslose Enthüllung der Zustände in einer aus öffentlichen Mitteln finanzierten Anstalt, meint Wiseman, dürfte kaum im Interesse der Regierenden gewesen sein. Und so lagert »Titicut Follies«, weil er zu grausig und zu wahr ist, noch immer in Wisemans Archiv.

Nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Staatsanwalts darf der Film gelegentlich herausgeholt und einer streng ausgewählten Gruppe von Personen (etwa Richtern oder Psychiatern) vorgeführt werden.

Dabei wäre es wohl auch geblieben, hätte es nicht in den letzten Monaten neue Aufregung um Bridgewater gegeben. Acht Patienten sind dort in den vergangenen eineinhalb Jahren auf rätselhafte Weise zu Tode gekommen - davon fünf allein seit März dieses Jahres. Als einer der Patienten, mit gefesselten Armen in seiner Isolierzelle liegend, an einem Stück Tuch und einer Kontaktlinse erstickt aufgefunden wurde, war »Titicut Follies« plötzlich wieder hoch aktuell. Man erinnerte sich an den fast vergessenen Film und mußte feststellen, daß sich in Bridgewater seit 1967 trotz einiger Reformen erschütternd wenig geändert hatte.

Noch wie damals, als Wiseman filmte, wird die Anstalt nicht etwa von den Gesundheitsbehörden, sondern als Strafanstalt geführt. Der Komplex ist rundum von Stacheldraht umgeben und wird von 186 Wächtern bewacht. Aber die 434 Insassen, von denen fast die Hälfte noch nicht eines Verbrechens überführt wurde, werden von nur 19 Psychologen und Psychiatern, 28 Krankenschwestern und einem Sozialarbeiter betreut. »Bridgewater ist wie ein unsichtbarer Tunnel, in den hineinzufallen manche das Pech haben«, sagte der Anwalt eines der Opfer.

Eine Untersuchungskommission forderte Anfang Juni, daß die Zahl der Ärzte verdoppelt, die Zahl der Krankenschwestern vervierfacht und der Etat um mehr als das Fünffache aufgestockt werden müsse, um in Bridgewater erträgliche Bedingungen herzustellen.

Frederick Wiseman hat den neuen Tumult um Bridgewater zum Anlaß genommen, erneut die Freigabe seines Films auf dem Klageweg zu versuchen. Demnächst müssen Richter entscheiden, ob Wisemans Dokument aus der Welt der geistig Umnachteten mittlerweile der Öffentlichkeit zugemutet werden könne.

»So bedauerlich es sein mag, einen so traurigen Anlaß zu benutzen«, sagt der Filmemacher, »so stärkt er doch meinen Fall. Hätte das Publikum 'Titicut Follies' früher zu sehen bekommen, wären acht Menschen vielleicht heute noch am Leben.«

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