Psychologie Verbrechen ohne Opfer
Noch nie hatte Gerald sich mit seinem Vater so heftig gestritten wie an diesem Tag. In seiner Wut warf er den Alten zu Boden, und der blieb regungslos liegen. »Ich habe ihn getötet«, schrie der Sohn, rannte zur nächsten U-Bahn-Station - und warf sich vor den Zug.
Viele Jahre lang konnte der amerikanische Psychologe Michael Lewis nicht verstehen, warum sein Schulfreund Gerald sich das Leben nahm: »Ich habe immer gedacht, daß er vielleicht erschrocken war, vielleicht sogar entsetzt«, erzählt Lewis, »aber so eine Selbstzerstörung machte einfach keinen Sinn.«
Erst während seiner Forschungen an der Robert Wood Johnson Medical School in New Jersey entdeckte der Wissenschaftler die Ursache für den Selbstmord: Es war Scham. Gerald habe sich für seinen Zorn und den vermeintlichen Mord geniert, »was, umgekehrt, Zorn erzeugte, der sich gegen ihn selbst richtete«.
Michael Lewis hat die Scham analysiert - und ist dabei zu dem Ergebnis gekommen, daß die Bedeutung dieser »fundamentalen menschlichen Emotion« von Psychologen lange Zeit unterschätzt worden sei*. Die moderne Leistungsgesellschaft habe alle Schamgefühle mit einem Tabu belegt, weshalb selbst die Wissenschaft dieses Thema bislang vermieden habe.
Doch inzwischen machen Soziologen und Psychologen verdrängte Schamgefühle nicht nur für viele Suizide, sondern auch für Alkoholismus, für Magersucht und Bulimie, für Depressionen und gescheiterte Psychoanalysen verantwortlich. Und sie haben ein neues Phänomen entdeckt: die narzißtische Scham. Die entstehe aus der qualvollen Spannung zwischen der Sehnsucht nach grandiosen Erfolgen und der ständigen Angst, zu scheitern.
»Die Scham ist in den Untergrund gegangen«, sagt der kalifornische Soziologe Thomas Scheff, »wir sprechen nicht darüber, wir zeigen sie nicht.« In den modernen westlichen Gesellschaften ist die Scham ein unerwünschtes, ein verbotenes Gefühl, kritisieren Forscher, und Scheff warnt: »Scham, die nicht zugegeben wird, ist Gift. Es tötet.« Die Schlußfolgerung heißt: Man darf sich seiner Scham nicht schämen.
Auch der Berliner Soziologe Sighard Neckel spricht von der Scham als dem »heimlichsten Gefühl in der modernen Gesellschaft"**. Sie sei »gelebte Erfahrung von sozialer Mißachtung, defizitärer Selbstbewertung und selbstempfundener ** Sighard Neckel: »Status und _(Scham - Zur symbolischen Reproduktion ) _(sozialer Ungleichheit«. Campus Verlag, ) _(Frankfurt/ Main; 290 Seiten; 58 Mark. * ) _(Michael Lewis: »Shame - The exposed ) _(self«. Macmillan, New York; 276 Seiten; ) _(24,95 Dollar. ) Inferiorität« - man geniere sich, so Neckels These, besonders gründlich für das Scheitern, seitdem Herkunft und sozialer Status keinen Lebensentwurf mehr vorgeben und jeder für sein Schicksal selbst verantwortlich sei.
In vormodernen Zeiten war Scham genauer definiert - und leichter zu therapieren: Wer die Verhaltensregeln und moralischen Vorschriften der Gesellschaft verletzte, der sollte sich gefälligst schämen. Wer sich daran hielt, hatte keinen Grund zur Scham.
Doch inzwischen sind die gesellschaftlichen Normen aufgeweicht, die Schamgrenzen verwischt: Deshalb kann das Tutti-Frutti-Ballett im Privatfernsehen nackte Busen und nackte Hintern schwenken, darf die amerikanische Entertainerin Annie Sprinkle öffentlich ihre Vagina präsentieren, können Damen-Kegelvereine durch Nachtklubs auf der Reeperbahn ziehen, ohne daß dies noch als beschämend gälte.
Eine andere, unauffälligere Variante der Scham aber hat an Bedeutung gewonnen: Der westliche Mensch, der die Verantwortung für seine Entscheidungen ganz allein tragen muß, glaubt bei jedem Fehler, jedem Mißerfolg, daß er als ganze Person gescheitert sei - und schämt sich zutiefst dafür. Amerikanische Psychologen halten diese Reaktion für pathologisch und nennen sie narzißtische Scham.
»Ein unbewußtes Gefühl, wertlos zu sein, kristallisiert sich oft in einem herrischen, negativen Blick auf das Selbst«, erklärt der amerikanische Psychotherapeut Robert Karen. »Man fühlt sich häßlich, dumm, impotent, unmännlich, unweiblich.« Wer einmal infiziert davon sei, könne sich selbst mit noch so großen Erfolgen nicht mehr heilen: »Narzißtische Scham ist mehr als eine schlechte Erinnerung«, sagt Karen, »sie verschwindet nie mehr völlig.«
So interpretieren Wissenschaftler inzwischen auch schamlos wirkendes Verhalten als das pure Gegenteil. »Wir lesen in den Zeitungen Geschichten, in denen berichtet wird, daß ein Autofahrer vergebens versucht, seinen Wagen zu starten, dann aussteigt und mit einer Pistole auf das Auto schießt«, erzählt der Chicagoer Psychoanalytiker Michael Basch. So handeln Narzißten, um ihre Scham zu kompensieren: Im Innern gäben diese Leute sich selbst die Schuld für die Mängel der Zündung.
Die Forscher vermuten als Ursache für die neue narzißtische Scham einen geänderten Erziehungsstil. Der Psychologe Lewis entdeckte bei seinen Experimenten, daß 40 Prozent der Mütter ein »Ekel-Gesicht« aufsetzen, wenn ihre Kinder an einer Aufgabe scheitern. Lewis folgert, daß die Mütter hier gleich den ganzen Menschen verabscheuen. Das Kind lerne nicht, daß es eine Norm oder eine Erwartung verletzt habe - es erfahre, daß es als Mensch nichts wert sei.
So erklärt Lewis auch solche Verhaltensweisen mit Scham, die vorher unverstanden blieben. Dazu gehören plötzlich explodierende Aggressionen, wie sie etwa über einen Hamburger Jugendlichen hereinbrachen: Nach einem Fest in ausgelassener Stimmung wollte der eine Sitzbank in einer U-Bahn-Station verrücken. Ein junger Mann kam auf ihn zu und spielte angesichts des Kraftakts auf den Terminator an: »Bist du Arnold der Erste, oder was?« Der Junge antwortete: »Nein, der Dritte« - und wurde für diese Bemerkung mit dem Kopf gegen die Wand geschlagen.
Nicht Lust an der Gewalt, glauben die Schamforscher, sei schuld an solchen Ausbrüchen, sondern ein negatives Selbstbild des Angreifers, der sich vor seinen Freunden blamiert fühlt. Lewis konstatiert: »Wut ist ein emotionaler Ersatz für verdrängte Scham.«
Der Psychotherapeut Karen nennt die Scham ein »Verbrechen ohne Opfer«, das weniger mit Moral zu tun habe als mit Anpassung und Konformität. Diese Erfahrung beschreibt die Bankkauffrau Martina so: Als sie durch die Innenstadt bummelte, drehten sich alle Passanten nach ihr um. Sie rätselte, was die Ursache sei, bis sie bemerkte, daß ihr Kleid in der Strumpfhose steckte - in diesem Moment hätte sie sich am liebsten in Luft aufgelöst.
Wer sich schuldig fühlt, kann reumütig zu seinem Opfer gehen und um Nachsicht bitten - »aber was verlangt Scham?« fragt die Psychoanalytikerin Helen Block Lewis: »Daß man ein besserer Mensch wird, nicht häßlich und nicht dumm ist und nicht versagt?« Die einzige Lösung wäre es, nicht mehr zu existieren. Das macht die Scham so quälend und so gefährlich: Wer sich schämt, möchte sich selbst vernichten - und überträgt oft diesen Wunsch auf andere.
Neuerdings führen Therapeuten auch das Scheitern jahrelanger Psychoanalysen auf das Schamgefühl zurück: Der Therapeut sitzt entfernt, unnahbar und anonym im Sessel, der Patient auf der Couch offenbart alle seine Fehler, all sein Versagen. Und er sieht sich mit den Augen des Analytikers und geniert sich für die erbärmliche und lächerliche Figur, die er womöglich abgibt. Man könne gar keine menschliche Beziehung erfinden, sagt Frank Broucek, Psychiater in Kansas City, die mehr Scham auslöse als die zwischen Patient und Psychotherapeut.
Denn der moderne Mensch, glaubt Soziologe Neckel, fürchte nichts so sehr, wie anderen unterlegen zu sein: Wer sich unterlegen fühle, empfinde sich selbst auch als minderwertig - und diese Scham sei unheilbar.
Dies sei auch ein Grund, vermutet die Ost-Berliner Psychotherapeutin Annette Simon, warum ehemalige Stasi-Spitzel noch leugneten, wenn sie längst entlarvt seien: Der Gesichtsverlust sei kaum zu ertragen.
»Wenn wir auf diesem Planeten überleben wollen«, warnt daher der amerikanische Therapeut Gershen Kaufman, »dann müssen wir anfangen, uns mit der Scham abzufinden.«
** Sighard Neckel: »Status und Scham - Zur symbolischen Reproduktionsozialer Ungleichheit«. Campus Verlag, Frankfurt/ Main; 290 Seiten;58 Mark. * Michael Lewis: »Shame - The exposed self«. Macmillan, NewYork; 276 Seiten; 24,95 Dollar.