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Traumforschung Videoclips der Seele

Mit Testschläfern, durch deren Adern radioaktiv markiertes Blut pulst, sind Forscher dem Geheimnis des Träumens auf der Spur. Ein belgischer Neurologe legte jetzt präzise Schnittbilder von träumenden Gehirnen vor. Sie zeigen, wie Gefühlserinnerungen während der Nacht bizarre Sequenzen von Bildern, Tönen und Gerüchen wachrufen.
aus DER SPIEGEL 40/1996

Zwei Nächte und drei Tage haben sie Sebastien Barth nicht schlafen lassen. Jetzt sinkt der Medizinstudent auf der Pritsche nieder. Eine Krankenschwester fixiert seinen Kopf unter einer Maske, verkabelt die Schädeldecke mit zehn Leitungen und sticht eine Kanüle in den Arm. Als sie Sebastien in die sargenge Stahlröhre schieben, ist er schon eingeschlafen.

Später wird er von Marmorstatuen erzählen, die sich in Frauen verwandeln. Eine weist ihm den Weg. Der Park ist sturmverwüstet, Äste liegen auf dem Weg; die werden alsbald zu Schlangen. Sebastien besiegt sie alle und rettet seine Begleiterin.

Aus einem Bleikasten neben der Pritsche tropft eine radioaktive Salzlösung in sein Blut. Sie kommt aus dem Teilchenbeschleuniger, mit dem die Physiker der Lütticher Universität normalerweise Atomkerne zertrümmern. In dieser Nacht läuft die Maschine, die eine Halle füllt, nur für Sebastien. Sie soll helfen, seine Träume zu durchleuchten.

Hinter einer Glasscheibe wacht Pierre Maquet im Dunkeln, kein Lichtschein soll Sebastiens Schlaf stören. Traumforscher Maquet beobachtet farbige Schatten, die über den Monitor vor ihm huschen. Es sind die flackernden Abbilder von Sebastiens Träumen - Schnittbilder derjenigen Teile von Sebastiens Gehirn, die gerade aktiv sind; Windungen, aus denen das radioaktiv markierte Blut besonders stark strahlt.

Mit Kerntechnik, Supercomputern und knapp zwei Dutzend willigen Schläfern wie Sebastien glaubt Maquet einen neuen Zugang zum Träumen gefunden zu haben. Nun legte der belgische Neurologe im Fachblatt Nature seine Ergebnisse vor: die ersten detaillierten Landkarten von träumenden Gehirnen.

Maquets Hirnbildsequenzen, millimetergenau mit einem Positronen-Emissions-Tomographen ausgemessen und dann auf genormte Modellhirne umgerechnet, sind ein neuer Triumph jener Neurologen, Psychiater und Biologen, die mit naturwissenschaftlicher Nüchternheit die Geheimnisse des Traums zu ergründen suchen. »In kaum einem anderen Forschungsfeld«, resümiert der israelische Schlafforscher Peretz Lavie, »wurden in derart kurzer Zeit solche Erfolge erzielt.«

Maquets Gehirnschnitte könnten den Weg weisen, die letzten Mysterien des Schlafs zu enträtseln: Was nützt ein Zustand, in dem Lebewesen passiv und zumeist völlig wehrlos sind, im Kampf ums Überleben? Wozu dient die Scheinwelt der Träume? Und was bedeuten die Traumgespinste?

All das sind Fragen, über die sich Wissenschaftler, Psychologen und Hobby-Traumdeuter allerorten seit jeher gestritten haben. Viele sprechen Träumen seherische Kraft zu. Die Antworten derer, die sich auf dem Boden des Überprüfbaren glauben, schwanken zwischen zwei Polen:

* Träume seien belangloses Hirnkino, sagen viele Hirnphysiologen - eine Art von Lockerungsübung, mit deren Hilfe sich das Gehirn nachts regeneriert.

* Die nächtlichen Bilder zeigten verborgene Sehnsüchte, behaupten die Psychoanalytiker - Träume seien so etwas wie ein Hellsehschirm, auf dem sich die ganze Wahrheit über den Schlafenden offenbare.

Im Jahr 1899 hatte Sigmund Freud seine Deutung des Traumgeschehens verkündet: Ein Schattenreich von Lüsten, meinte er, die in der Realität nicht zum Zuge kommen, bahne sich nachts seine Wege.

Freud nannte Träume »abnorme psychische Gebilde«, Abstiegsleitern in die Dunkelwelt des Unbewußten, Königswege zum Charakter der Schlafenden. In flackernden Chiffren stiegen Sehnsüchte empor, so verwegen, daß der Schläfer sie sich nicht einmal im Traum eingestehe - weshalb der Urvater der Psychoanalyse das Traummaterial seiner Patienten auf der Couch eifrig nach Hohlräumen (Vagina) und stabförmigen Gebilden (Penis) absuchte.

Einen Generalangriff auf das Lehrgebäude des Meisters aus dem IX. Wiener Bezirk starteten zwei amerikanische Psychiater im Jahre 1977: Allan Hobson und Robert McCarley entdeckten, daß der Hirnstamm im Traum wirre Signale aussendet - elektrische Erregungen, die optische und akustische Großhirnzentren zur Aktivität anfeuern.

Träume, schlossen die beiden Forscher aus ihrem Fund, seien nichts als absurde Hervorbringungen des Gehirns, das vergeblich versucht, solchem Nervenradau einen Sinn zu geben. Womöglich dienten die elektrischen Gewitter aus dem Hirnstamm dazu, nützliche Erinnerungsmuster zu verstärken und überflüssige zu löschen - ein nächtlicher Hausputz im Kopf, zu dem die Traumbilder eine Begleitmusik spielen.

»Wir träumen, um unser Gedächtnis zu trainieren«, behauptete Psychiater Hobson; Freuds Traumdeutung sei damit überholt, seine Symbollehre widerlegt. »Ein Traum von einer Banane«, rief erleichtert die US-Psychologin Rosalind Cartwright, »kann durchaus ein Traum von einer Banane sein.«

Seelenverachtender Reduktionismus, wetterten dagegen die Psychoanalytiker. Keinesfalls könne derartige Hirnseziererei der »psychischen Dynamik« des Nachttheaters gerecht werden. »Wie kann Hobson«, fragte ein prominenter US-Analytiker, »sich Erkenntnisse über Träume anmaßen, wo er sich doch der Psychoanalyse gar nicht bedient?«

Ungerührt fuhren die Neurophysiologen mit ihren Meßgeräten und Skalpellen fort, immer verblüffendere Tatsachen über das bizarre Hirnkino aufzudecken.

Sie erkannten, daß Träume für fast alle Säugetiere lebenswichtig sind: An den Köpfen von Katzen, von Kaninchen und selbst bei Känguruhs maßen sie Hirnströme, die charakteristisch sind für sogenannte Rem-Schlafphasen, in denen schnelle Augenbewegungen mit Träumen einhergehen.

Den endgültigen Beweis lieferten Ratten, die in einer Reihe von Experimenten ihr Leben lassen mußten: Tagsüber wurden die Tiere auf einem Laufrad müde gemacht. Zur Nacht wurden sie in ein Bassin gesperrt, das so hoch voll Wasser stand, daß gerade noch die Schnauzen der Tiere herausragten.

Die knopfäugigen Nager lernten, mit erhobenen Köpfen zu schlafen; doch sobald sie im Rem-Schlaf zu träumen begannen, ließ ihre Muskelspannung im Nacken nach, die Schnauzen tauchten ins Wasser, und die Tiere wachten auf. 60 traumlose Nächte ertrugen die zähesten unter ihnen - dann starben auch sie.

Einzig bei Delphinen maßen die Forscher Hirnstromkurven, die anders waren als bei allen übrigen hochentwickelten Säugetieren, und lange schien es, als kämen die intelligenten Meeressäuger ohne Träume aus. Dann aber gelang es, mit Unterwasserkabeln extrem langsame Stromwellen aufzuzeichnen, die einmal links, einmal rechts in den Delphin-Köpfen pulsierten. Die beiden Hirnhälften, so stellte sich heraus, teilen sich die Arbeit - eine besondere Strategie, die verhindert, daß die Tiere das Luftholen versäumen. Wie Fernfahrer auf der Autobahn wechseln sich die Hirnhälften nachts alle zwei Stunden ab: Während die linke Seite paddelt, gibt die rechte sich Illusionen hin.

Wozu aber dient das Nachttheater im Kopf? Elektrische Schwingungen aus verkabelten Katzenhirnen brachten die Neurologen mindestens einem Zweck der Träume auf die Spur. Die Ableitungen offenbarten eine verblüffende Übereinstimmung: »Theta-Rhythmen« genannte Nervensignale, die im Traumschlaf die Gehirnwindungen durchschauern, pulsten auch in wachen Tieren - immer dann, wenn diese sich in einer neuen Umgebung zurechtfinden mußten.

Bald fand der US-Forscher Jonathan Winson heraus, daß die eigenartigen Schwingungen dazu dienen, Erinnerungen ins Gedächtnis zu prägen. Ratten lernten Dressurakte schneller, wenn ihre Gehirne im Theta-Rhythmus mit einem elektronischen Schwingungsgenerator stimuliert wurden. »Damit war der Fall gelöst«, erklärt Winson bündig - offenbar lernten die Tiere im Traumschlaf.

Die Umkehrprobe bestätigte die Vermutung: Winson dressierte seine Tiere am Abend. Dann sperrte er sie in das Übernachtungsbassin, in dem ihre Artgenossen für die Wissenschaft zugrunde gegangen waren, und setzte das Becken samt Ratten unter Wasser. Nach der zwangsläufig traumlosen Nacht benahmen sich die Nager, als wären sie nie dressiert worden.

Experimente mit Menschen, durchgeführt im vorletzten Jahr, zeigten ähnliches: Versuchspersonen, die regelmäßig geweckt wurden, sobald ihre Hirnwellen Traumschlaf anzeigten, wurden selbst durch eifrigstes Lernen nicht klüger.

Denn so wie Computer nachts ihre Dateien aktualisieren, bringt offenbar ein nie versiegender Bewußtseinsstrom im Traum die Hirnrinden-Verknüpfungen jeweils auf den neuesten Stand.

Wie das geschieht, darüber könnten die Hirnlandkarten des Lütticher Traumforschers Maquet Aufschluß geben. Sie zeigen, welch überragende Rolle Regungen spielen, die logikbegeisterte Forscher als überflüssigen Plunder im Nervengeflecht abgetan hatten - Gefühle.

Dabei war längst bekannt, daß ganze Gehirnregionen einzig für die Verarbeitung von Affekten da sind. Neben dem Hirnstamm, genau im Zentrum des Schädels, sitzt die zugehörige Schaltstelle: die Amygdala, Aufseher über Angst, Freude und Zorn.

Der mandelgroße Zellenhaufen gibt durchlebte Empfindungen ans Langzeitgedächtnis weiter, ordnet ihnen Erinnerungen zu und ruft sie bei Bedarf wieder ins Bewußtsein - eine Art Kommandobrücke der Psyche, die offenbar auch die Träume steuert.

Maquets Befund: Bei den nächtlichen Durchleuchtungen flackerten jene Hirnregionen der Testschläfer auf, die in bestimmten Traumszenen gerade aktiv waren - optische, akustische und olfaktorische Zentren im Großhirn, je nachdem, ob der Träumende Bilder zu sehen, Töne zu hören oder Düfte zu riechen meinte.

All jene Windungen unmittelbar hinter der Stirn aber, die für Zeitgefühl, kritisches Denken und Logik zuständig sind, schwiegen - der Grund, weshalb sich der Schlafende als tumber Tor durch seine Träume stolpern sieht.

Ganz gleich, wo das Nervengewitter im Hirn gerade tobte - stets war die Amygdala der Gefühlskommandant, der aktivste aller Hirnteile. Und stets gingen die Erregungen der Regionen, die Bilder, Töne oder Düfte vorspielten, von dort aus, wo die Signale aus der Amygdala eintreffen.

Ist der Nervenzellknoten im Schädelzentrum also jene Brücke ins Unbewußte, nach der Freud einst gesucht hatte? Und wären demnach Affekte die Quelle, aus der sich Traumhandlungen speisen? Sind sie es, die ein Kaleidoskop von Bildern, Episoden, Geräuschen des Tages im Traum miteinander verklammern?

Maquets Hirnaufnahmen legen solche Vermutungen nahe - und Experimente mit hirnoperierten Katzen weisen in eine ähnliche Richtung. Den Tieren wurden Hirnzentren zerstört, welche die Muskeln im Traum stillstellen. Nach dem Eingriff führten die Katzen im Schlaf gespenstische Schauspiele auf: Sie fauchten, tobten, jagten imaginäre Gegner - und stoben Sekunden später panisch davon.

Die schnell wechselnden Traumaffekte, die Auslöser des nächtlichen Wütens, könnten bestimmte Überlebensreaktionen ins Hirn gleichsam einbrennen. Denn je ausgefeilter das Gehirn eines Tieres, um so weniger ist es durch Instinkte fest programmiert - erst die im Traum gespeicherte Angst verknüpft womöglich im Katzenkopf die Vorstellung von bellenden Hunden mit dem blitzschnellen Entschluß zur Flucht. Ohne Lernen im Traumschlaf wären die Tiere verloren, spekuliert Maquet - und erst recht wäre es der Mensch.

Daß Träume eine wichtige Rolle zumindest für die Seelengesundheit spielen, ist inzwischen erwiesen: Schon seit einigen Jahren wissen Psychiater, daß bei vielen chronisch depressiven Patienten die Abfolge von Träumen und traumleeren Schlafperioden gestört ist. Werden die Kranken zu einem veränderten Schlafrhythmus gezwungen, schwindet in manchen Fällen ihre Traurigkeit.

Wie umgekehrt Gefühle auf Träume einwirken, zeigt das Beispiel von 26 Amerikanern, die 1976, damals als Kinder, in einem Schulbus entführt, zu einem Erdloch dirigiert und darin lebendig begraben wurden. Erst nach 16 Stunden gelang es 2 starken Jungen, sich einen Weg ins Freie zu wühlen.

Noch Jahre später peinigten Alpträume die Opfer. Aber ihre nächtlichen Qualen, welche die US-Psychiaterin Lenore Terr jahrelang aufzeichnete, wandelten sich mit der Zeit: Anfangs durchlebten die Kinder immer wieder die Stunden unter der Erde - wie einen Horrorfilm, den sie stets von neuem ansehen mußten. Später verschob sich die Handlung etwas, und neue Personen tauchten auf.

Als die Entführten schließlich heranwuchsen, hatte sich ihre Angst in symbolische Bilder gekleidet: Die Opfer erlebten im Traum, wie Dinosaurier sie jagten oder Wolfsmänner sie fraßen, oder sahen sich als Zeugen ihres eigenen Todes - der erlittene Terror meldete sich mit einer eigenen Sprache.

Derartige Befunde passen zu der Analyse, die Traumforscher Maquet aus seinen Hirnkarten herleitet: Wie Bilder in einem Videoclip, so illustrieren die Szenen im Traum die Musik der Affekte. Wenn solches Nachtkino bizarr sei, so liege es nicht an sinnverstellenden Symbolen, wie Freud gemeint hatte - und ebensowenig an der Zufälligkeit eines Nervengewitters im Hirn, wie Psychiater Hobson glaubte.

Träume, vermuten nun immer mehr Hirnforscher, zeigen schlicht das Gedächtnis, wie es arbeitet: unlogisch, gefühlsbestimmt, mitunter skurril.

Und wenn die Bilder im Schlaf manchmal erotisch und schrill daherkämen, so vielleicht nur deswegen, weil der Mensch nun einmal ein lustgieriges Wesen sei. »Träume«, sinniert Hobson, »sind wohl auch dazu da, uns zu unterhalten.«

[Grafiktext]

Hirnfunktion im Traum

[GrafiktextEnde]

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