ARCHÄOLOGIE Viel Know-how
Im Auftrage von Fiat, Hersteller von mittlerweile 40 Millionen Landfahrzeugen aller Klassen, hat die Mailänder Architektin Gae Aulenti vor drei Jahren den Palazzo Grassi in Venedig restauriert.
Nun dient ihr der zweistöckige Barockpalast am Canale Grande als idealer, von Licht und Helligkeit durchfluteter Ausstellungstempel für die Überreste eines großen Seefahrervolkes der Antike: Zu sehen ist eine monumentale, die bisher umfassendste Schau über die Kultur der Phönizier.
Mehr als zehn Jahre liefen die Vorarbeiten zu der im März eröffneten Ausstellung, für die die italienischen Organisatoren schließlich rund 1000 Fundstücke aus den Museen Europas und Nordafrikas zusammengetragen haben - ein machtvoller Höhepunkt für die archäologische Neuentdeckung des Händlervolkes von den Küsten des heutigen Libanon. Erst in den letzten 25 Jahren haben die Altertumsforscher den hohen Rang dieser - bei den Historikern bis dahin zu kurz gekommenen - Kultur wieder aufgehellt; italienische Archäologen spielten eine führende Rolle bei der Spurensuche rund ums Mittelmeer.
Multimedial können sich nun Besucher (bis zum 6. November) der Hinterlassenschaft des Seefahrervolkes nähern, das im ersten vorchristlichen Jahrtausend die Hochkulturen des Ostens miteinander verband und durch Handelsniederlassungen und Kolonien Brücken ins westliche Mittelmeer schlug.
Vom Hubschrauber aus hat der Dokumentarfilmer Folco Quilici die Niederlassungen der Phönizier an den Küsten Nordafrikas und Spaniens, auf Sizilien, Sardinien und den Balearen aus der Luft aufgesucht. Unter dem Knattern der Rotorblätter und aus der Schwerelosigkeit des Fluges schmelzen die Jahrtausende wie im Zeitraffer zusammen. Der Film ist in einer abgedunkelten Kirche neben dem Palazzo Grassi zu sehen.
Die Ausstellung selbst geriet unter der Regie von Gae Aulenti über weite Strecken zu einem begehbaren Environment. In kleinen, eng zusammengewürfelten Vitrinen lassen sich die Funde der Archäologen wie am Grabungsort selbst zustande gekommene Ensembles betrachten: Elfenbeinschnitzereien und Götterfiguren aus Ton, kunstvoll verarbeiteter Goldschmuck, Glasamulette, Siegel, Keramiken, Münzen und Masken. Krakelige Graffiti an den hell ausgeleuchteten Wänden, Karten, Modelle und das lebensgroße Szenario eines wellenumtosten phönizischen Wracks lassen museale Starre gar nicht erst aufkommen.
Und beinahe nach jedem Raum fällt der Blick in den luftigen, säulenumstandenen Innenhof, in dem eine rotbraune Sanddüne phönizische Sarkophage freigibt - die archäologischen Fundstücke gleichsam zurückgekehrt an ihre natürliche Stätte.
Zu bedauern sind in den nächsten Monaten nur zwei Sorten von Besuchern im Palazzo Grassi: Puristen, denen der beinahe spielerische, lebensfrohe Geist der Ausstellung als ungewohntes Ärgernis erscheinen mag (sie werden mit einem 768 Seiten starken und 3,2 Kilogramm schweren Katalog entschädigt), und die dunkelhaarigen Aufseherinnen, die den Besucherstrom unablässig von den (noch) sprechenden Wänden scheuchen und das Befingern von Dünen und Plastikwogen energisch unterbinden.
Bis in die Mitte der sechziger Jahre waren politische Geschichte und kulturelle
Leistungen des Seefahrervolkes, das zwischen dem neunten und zweiten Jahrhundert vor Christus seine Hochblüte erlebte, in ein wissenschaftliches Niemandsland verbannt geblieben.
Die Phönizier, so einer der besten westdeutschen Kenner, der Hamburger Archäologe Hans Georg Niemeyer, ließen sich im Schubkastensystem der Wissenschaften »überall unterbringen": Altsemitisten beschäftigten sich mit ihrer Sprache, Prähistoriker mit den Spuren, die sie beim Aufeinandertreffen mit den Völkern im westlichen Mittelmeerraum hinterlassen hatten, Theologen mit den Äußerungen der Bibel über die feindlichen »Kanaaniter«, deren hartnäckige Vielgötterei den Propheten des einen Gottes als verdammenswerter Frevel galt. Im vielfach gebrochenen Spiegel der Disziplinen kamen die Seefahrer und Koloniengründer nicht ins rechte Licht.
Erst in den vergangenen zwei Jahrzehnten hat sich das Bild gewandelt: Der akademische Troß, so Niemeyer, »marschierte pfeilgerade los auf eine genuin phönizische Archäologie«.
Mittlerweile haben die Forscher, abgeschreckt durch die Dauerkonflikte im Libanon, sich vor allem in den ehemaligen Westkolonien der Phönizier umgetan: Bei Grabungen auf Sizilien und Sardinien, an der Südküste Spaniens und in Portugal, in Algerien und Marokko kamen reichhaltige Funde an den Tag.
Unbestritten waren schon vorher die seefahrerischen Fähigkeiten der Stadtstaatler aus dem Nahen Osten: Bekannt waren ihr Sinn für Handel und Geschäft; ihre Handwerker verstanden es, zierliche Glasflakons und edlen Schmuck herzustellen, auch wertvolle Möbel und purpurn eingefärbte Stoffe. Auf der Suche nach Rohmaterialien, die der Küstenstreifen zwischen den libanesischen Bergen und der offenen See nicht hergab, segelten dickbauchige phönizische Kauffahrer an den Küsten entlang bis zu den Britischen Inseln und in den Golf von Guinea.
Als frühe Spediteure für Waren und Sklaven belieferten Phönizier die mesopotamischen und ägyptischen Königshöfe. Von ihrer mächtigsten Niederlassung aus, dem Ende des neunten Jahrhunderts vor Christus gegründeten Karthago, diktierten sie lange Zeit den historischen Takt für das entstehende römische Imperium: Als Rom noch hauptsächlich aus Schlamm und Holz gebaut war, lagen schon Hunderte von Schiffen im Hafen von Karthago in Trockendocks und überdachten Hallen aus Stein.
Römische Schiffbauer und Seeleute lernten ihr Handwerk in den Jahrhunderten danach von den punischen Gegnern. Als die Legionäre dem lästigen Konkurrenten 146 vor Christus den Todesstoß versetzten, verschwanden die phönizischen Seefahrer, nach über 1000jährigem Wirken, aus der Geschichte.
Die Erfolge der Archäologen in den letzten zwei Jahrzehnten haben das Phönizier-Bild korrigiert. Noch hängt ein Teil der internationalen Forschergilde dem aus klassischen Quellen genährten Negativ-Image an - doch die Deutung, die Phönizier seien ein verschlagenes Händlervolk gewesen, das sich durch Menschenopfer und eine unersättlich grausame Götterwelt von Griechen und Römern unterschieden habe, ist nicht länger aufrechtzuerhalten: *___Weder in den Stadtstaaten des Ostens noch im ____kosmopolitischen Karthago, so glaubt Sabatino Moscati, ____wissenschaftlicher Leiter der Ausstellung im Palazzo ____Grassi und Doyen der italienischen Phönizier-Forscher, ____seien die Götter durch den systematischen Feuertod von ____Kindern gnädig gestimmt oder sei eine grausige ____Geburtenkontrolle praktiziert worden. Umfangreiche ____Funde von Kindergräbern auf speziellen
Friedhöfen, den Tophets, deuten vielmehr darauf hin, daß totgeborene oder an Krankheiten verstorbene Kinder in heiligen Bezirken zu Ehren der Götter beigesetzt worden waren. *___Die schon von den Verfassern der Bibel und zahlreichen ____klassischen Autoren als blutrünstig geschilderten ____Beherrscher des phönizischen Pantheons, die Gottheiten ____Tanit und Baal Hammon, scheinen eher als fürsorgende ____Beschützer verehrt worden zu sein. *___Anders als die Griechen kamen die Phönizier am Beginn ____der Kolonisierungsphase nicht als Landnehmer, denen an ____politischer Macht und wirtschaftlicher Ausbeutung des ____Hinterlandes gelegen war. Sie errichteten ein System ____von seenahen Handelsstützpunkten rings ums Mittelmeer, ____um von dort aus im Einvernehmen mit der ansässigen ____Bevölkerung Geschäfte und Tauschhandel abwickeln zu ____können.
Ihre Tätigkeit als Kaufleute nötigte den Phöniziern bereits früh eine kulturelle Großtat ab, von der Griechen und Römer profitiert haben und ohne die die Entwicklung der modernen westlichen Welt nicht denkbar gewesen wäre: die Erfindung des Buchstaben-Alphabeths.
Um Handel treiben zu können, schufen sie Maßsysteme, die von den Nachfolgern und Siegern übernommen wurden. Die Phönizier, so Archäologe Niemeyer, haben »viel Know-how nach Europa gebracht«.
Schon mehrere internationale Ausstellungen, die jüngste im American Museum of Natural History in New York, haben die Phönizier als Vorläufer der europäischen Kultur in neuem Licht gezeigt. Die gelungene Mammutschau im Palazzo Grassi setzt diesen Trend fort und erntete höchstes Lob.
Die veränderte Sicht der Archäologen in Venedig, so urteilte die »New York Times«, sei mit den Anwandlungen historischer Selbstbesinnung in der Sowjet-Union vergleichbar: »Wie die Opfer des Stalinschen Terrors«, meint das New Yorker Blatt, so werde nun das Volk der Phönizier »vor der Geschichte rehabilitiert«.