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SEUCHEN Virenfracht aus dem Regenwald

Erneut ist ein Erreger von einem Wildtier auf den Menschen übergesprungen: In den USA grassieren die Affenpocken.
aus DER SPIEGEL 25/2003

Tammy Kautzer, 28, hält auf ihrer Hobbyfarm im US-Bundesstaat Wisconsin Hunde, Katzen, Ziegen, Esel und Ponys. Mitte Mai fielen ihr auf einem Markt Präriehunde auf - possierliche Nager aus Texas, die von immer mehr Amerikanern als Haustiere gehalten werden. Sie kaufte zwei für ihren Heimzoo, das Stück für 95 Dollar, und fuhr arglos nach Hause.

Sie ahnte nicht, dass sie mit dieser Fahrt einem tückischen Virus aus dem Regenwald Afrikas Einlass gewährte - erst in den Körper ihrer Tochter Schyan, 3, dann in den ihres Mannes Steve, 38, und schließlich in ihren eigenen.

Über die Nagetiere hat sich die ganze Familie Kautzer mit den seltenen Affenpocken angesteckt. Einer der Präriehunde biss kurz vor seinem Tod am 20. Mai die kleine Schyan in den Finger. Bald darauf litt sie an hohem Fieber, an eitrigen Pusteln und Schweißausbrüchen. Die Ärzte waren ratlos - bis sie auf die nicht eben nahe liegende Lösung kamen: Schyan gilt als erster Mensch in der westlichen Welt, der an Affenpocken erkrankt ist.

Sie blieb nicht lange allein. Bis Ende letzter Woche kannten die Behörden über 60 infizierte Amerikaner in vier Bundesstaaten. Keiner ist gestorben, aber mindestens zehn lagen mit Krusten auf der Haut im Krankenhaus. Alle Opfer hatten mit Präriehunden zu tun. Und alle Präriehunde stammten aus nur einem Laden: »Phil''s Pocket Pets« nahe Chicago.

Dessen Eigentümer Philip Moberley, 34, hielt 200 Präriehunde aus Texas in Käfigen. In Nachbarkäfigen hatte er fünf wilde Wesen aus Afrika untergebracht, die es als Haustiere ebenfalls zu verblüffender Popularität gebracht haben: Gambia-Riesenhamster-

ratten - katzengroße Nager mit langen, nackten Schwänzen.

Diese Ratten, wohl im April in den USA angekommen, haben die Affenpocken ins Land gebracht - womöglich für immer. Denn jetzt sind nicht nur Menschen und Präriehunde betroffen. In einem Haushalt wurde auch bereits ein Kaninchen infiziert. Als Nächstes könnte sich das Virus in Hamstern und den weithin beliebten Wüstenrennmäusen etablieren. Die Seuchenbehörde »Centers for Disease Control« (CDC) in Atlanta fürchtet, dass Mäuse, Ratten und Eichhörnchen, die selber symptomfrei bleiben, das Virus in die freie Wildbahn verschleppen; denn auch in Afrika sind diese Nager sein natürliches Reservoir.

In diesem Fall könnten sich die Affenpocken, ein für Menschen nur selten tödlicher Verwandter der Pocken, wohl unausrottbar in den USA einnisten. Die Folgen wären nicht abzusehen: Experten fürchten Schlimmes, wann immer ein Virus in jungfräuliches Terrain einbricht. Allen, die bisher entfernt mit dem Virus in Berührung gekommen sind, empfehlen die CDC deshalb, sich gegen Menschen-Pocken impfen zu lassen. Dieses Vakzin soll selbst nach einer Ansteckung noch gegen Affenpocken helfen.

Ob Haustier oder nicht, enger Kontakt zu wilden Tieren war immer schon riskant: Bereits als Menschen in der Vorzeit damit anfingen, Tiere zu domestizieren, gelang vielen Krankheitserregern der Sprung über die Artengrenze - die Masern, glauben manche Forscher, stammen ursprünglich von den Wölfen, die Tuberkulose von den Rindern und die Rhinoviren, die Auslöser vieler Erkältungen, von den Pferden.

In moderner Zeit ist die Lage wieder bedrohlicher geworden. Tiere reisen ebenso schnell wie Menschen an Bord von Jets über den Planeten. Papageien, Pythons, Riesen-Vogelspinnen und andere Exoten werden zum großen Teil unter erbärmlichen Bedingungen illegal in die weite Welt verschifft.

Fast alle der in den letzten 30 Jahren neu aufgetauchten Seuchen haben ihren Ursprung in Tieren. Das Aids-Virus stammt von Schimpansen, die in Zentralafrika häufig gegessen werden. Die Lungenseuche Sars ist in China entstanden, als Menschen infizierte Zibetkatzen verzehrten. Südchina, wo Menschen, Schweine und Geflügel traditionell eng beieinander leben, gilt zudem als Brutplatz immer neuer Grippevarianten.

In Thailand hat die Regierung vor kurzem das Halten der beliebten Madagaskar-Fauchschaben (Länge: sechs Zentimeter) unter Strafe gestellt - sie könnten Typhus übertragen. Japan hat gerade den Import der dort gleichfalls populären US-Präriehunde untersagt, als sich herausstellte, dass die Tierchen angeblich sogar die Pest verbreiten können.

Für die texanischen Präriehund-Exporteure bricht nun dank der Virenfracht einer Hand voll Riesenhamsterratten das Geschäft zusammen. An die 20 000 Tiere hatten sie bisher jedes Jahr verkauft, von nun an gilt für sie landesweit ein Transportverbot. Die Texaner werden mit den Nagern wohl nun wieder das machen, was sie früher schon gern mit ihnen taten - sie spaßeshalber erschießen, sobald sie aus einem Erdloch lugen.

Tammy Kautzer hingegen hat auch in der Not ihr Herz für die Kreatur nicht verraten. Sie will »Chuckles«, den Präriehund, der mit ihrer Familie die Attacke der Affenpocken überlebt hat, auf keinen Fall einschläfern lassen. Kautzer: »Es ist doch nicht seine Schuld, dass er sich was von ''ner Ratte eingefangen hat.« MARCO EVERS

* Mit dem Präriehund »Chuckles«.

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