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»Watte im Hirn«

Bergsteiger Reinhold Messner über die Tragödie am Mount Everest
aus DER SPIEGEL 19/1999

SPIEGEL: Herr Messner, wer stand als erster auf dem Dach der Welt?

Messner: Jedes Lexikon weist Hillary und Tensing als Erstbezwinger aus. An dieser Pionierleistung gibt es für mich keinen Zweifel.

SPIEGEL: Die Expeditionsmitglieder um Eric Simonson sehen das anders nach dem Leichenfund der vorletzten Woche. Sie glauben, daß George Mallory bereits 1924 die Großtat vollbrachte.

Messner: Das ist undenkbar. Ich würde es Mallory wirklich gönnen, aber er ist tragisch gescheitert.

SPIEGEL: Was macht Sie so sicher? Immerhin galt der Brite als Ausnahmebergsteiger.

Messner: Er war der beste Mann seiner Zeit, ein exzellenter Kletterer, willensstark, dazu gebildet, ein Gentleman, der die Ehre des Empires mehren wollte. Da ist nicht irgendeine Flasche umgekommen. Deshalb auch dieser Mythos. Mallory war bereit, bis zum Tod zu gehen.

SPIEGEL: Das ist er dann ja auch, aber vielleicht erst nach dem Gipfelsturm? Als er das letzte Mal gesehen wurde, lief er, gegen ein Uhr mittags, behende über den Nordostgrat in etwa 8500 Meter Höhe.

Messner: Eine ungeheure Leistung. Doch dann kam ein für ihn unüberwindliches Hindernis: der »Second Step«. Dieser Steilhang ragt rund 50 Meter senkrecht empor. Das oberste Felsstück ist fast überhängend. Da ist kein Hochkommen, schon gar nicht mit Nagelschuhen und schweren Sauerstoffflaschen.

SPIEGEL: 1960 hat eine chinesische Expedition am Second Step alte Holzpflöcke und Seilreste gefunden, vermutlich von Mallory. Könnte er das Hindernis nicht doch überwunden haben?

Messner: Ich besitze Unterlagen, daß selbst die Chinesen 1960 am Second Step scheiterten. Ein Mitglied der damaligen Expedition hat mir unter vier Augen gestanden: »Wir haben den Gipfel gar nicht erreicht.«

SPIEGEL: Peking feierte das Erstürmen der Nordwand des Everest damals als einen Sieg des Kommunismus.

Messner: Alles Propaganda. Es gibt keine Beweise. Erst beim nächsten Anlauf, 1975, haben die Chinesen lange Aluminiumleitern zum Second Step hochgeschleppt. Die wurden an die Steilwand gestellt, und es wurden Haken in den Fels geschlagen. Alle späteren Expeditionen haben diese Kletterhilfe genutzt und nur die mürben Fixseile gegen neue ausgetauscht. Ich lese in den Zeitungen lauter dummes Zeug. Die Zweite Stufe ist bis heute von keinem Bergsteiger frei geklettert worden.

SPIEGEL: Hätte Mallory über eine Ausweichroute sein Ziel erreichen können?

Messner: Alles Wunschdenken. Der Fundort der Leiche beweist, daß Mallory und Irvine am Second Step scheiterten - halt, aus, amen! Dann sind sie umgekehrt, um auf direktem Weg zum Zelt zurückzugelangen. Das mißlang.

SPIEGEL: Dem Vernehmen nach hat Mallorys Bein eine Fraktur.

Messner: Alles weist auf Absturz hin. Wahrscheinlich ging der Sauerstoff aus. Wer in der Todeszone lange rumläuft, und Mallory war tagelang oben, fühlt sich wie in Narkose, als hätte er Watte im Gehirn. Die Muskeln erlahmen. In diesem apathischen Zustand kann man leicht stolpern.

SPIEGEL: Der Tote ist exzellent konserviert ...

Messner: Eine Art Ötzi-Effekt. Bei Monsun kann es manchmal bis auf 8000 und mehr Meter hoch tauen, aber nur für kurze Zeit. Im Frühling fegt der Wind den Schnee weg. Deswegen lag der Körper frei auf dem Fels.

SPIEGEL: Was aber, wenn die mitgeführte Kodak-Kamera der Himalaya-Pioniere doch noch einen Fotobeweis lieferte - einen Schnappschuß vom höchsten Punkt?

Messner: Dann wäre ich schwer gefordert. Hoffentlich wird der Apparat gefunden. Aber ich sage Ihnen, beim Fell des Yeti: Gipfelbilder sind da nicht drauf.

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