
Erde und Mond in den Sechzigern: So scharf wie noch nie
Analoge Nasa-Bilder Die Mondschatz-Jäger
"O schwöre nicht beim Mond, dem wandelbaren, der immerfort in seiner Scheibe wechselt, damit nicht wandelbar dein Lieben sei!", weist bei Shakespeare die Julia ihren Romeo an. Wie Recht Julia mit dieser Aussage über die wandelbare Oberfläche des Erdtrabanten hatte, zeigt gerade eine Handvoll Wissenschaftler im kalifornischen Mountain View. Sie haben sich der alten Magnetbänder angenommen, auf denen die Nasa in den sechziger Jahren die ersten Aufnahmen von der Mondoberfläche speicherte. Und umgekehrt vom blauen Planeten aus der Mondperspektive.
"Das ist immer noch mein Lieblingsbild", schwärmt Dennis Wingo. "Der Blick auf die Erde in den Sechzigern in solcher Detailgenauigkeit ist einfach wunderschön." Wingo, der Präsident des Raumfahrttechnikherstellers SyCorp, ist stolz auf das, was sein Team aus dem ersten Foto der Erde herausgeholt hat, das je vom Mond aus aufgenommen wurde: am 23. August 1966 - analog. Die digitale Version, die Wingo und sein Forscherteam aus den Originaldaten rekonstruieren konnten, hat den vierfachen Kontrastumfang und die doppelte Auflösung. Doch es gibt noch viel mehr zu tun: Das Lunar Orbiter Image Recovery Project (LOIRP) hat sich zur Aufgabe gemacht, sämtliche alte Bänder auszulesen und die darauf gespeicherten Bilder zu reproduzieren.
Diese Fotos sind ein wissenschaftlicher Schatz. Denn erst im Vergleich mit den neuen Bildern, die derzeit die neue Mondsonde der Nasa, der Lunar Reconnaissance Orbiter, liefert, lassen sich Veränderungen auf der Mondoberfläche in den vergangenen Jahrzehnten feststellen - und damit die Gefahren für künftige bemannte Mondmissionen besser einschätzen. Doch schon lange gibt es nicht einmal mehr die Bandlaufwerke, die nötig sind, um diese Daten zu lesen - und die Techniker, die solche Laufwerk-Dinosaurier bedienen können, sind praktisch ausgestorben.
Walöl als Fixierungsmittel
Dass die alten Bänder überhaupt überlebt haben, ist nur der Initiative der Nasa-Archivarin Nancy Evans zu verdanken. Sie brachte es 1986 nicht übers Herz, die rund 1500 aussortierten Spulen zum Recycling freizugeben. In jenen Jahren suchte die US-Raumfahrtbehörde nach wiederverwendbaren Bändern zum Überspielen mit neuen Daten. Damals fixierte nämlich noch Walöl die Eisenpartikel - offenbar der beste "Kleber", der damals zu bekommen war. Als dann die kommerzielle Walfangquote im Jahr 1986 auf null gesetzt wurde, gab es keinen adäquaten Ersatz - und keine neuen Magnetbänder mehr, die qualitativ hochwertig genug waren.

Erde und Mond in den Sechzigern: So scharf wie noch nie
Doch Evans ahnte, dass die Mondbilder noch von Nutzen sein könnten. Mit einem kleinen Budget der Nasa ausgestattet, kaufte Evans vier Ampex FR-900 Bandlaufwerke, jene Maschinen, die man brauchte, um die Daten auslesen zu können. Dass Evans überhaupt solche hochspezialisierten Laufwerke fand, war ein Glücksfall. Eine ganze Reihe der Maschinen lag nämlich mittlerweile auf dem Meeresgrund vor dem Kwajalein-Atoll rund 3900 Kilometer südwestlich von Hawaii. Die US-Regierung hatte den Technikschrott hier als Siedlungsboden für Korallenriffe entsorgt.
Jedes dieser Uraltlaufwerke hat Ausmaß und Gewicht eines großen Kühlschranks. In den Nasa-Archiven war für die Ungetüme kein Platz, also stellte Evans sie in ihrer Garage unter. Dort bauten sich jahrzehntelang Spinnen ihre Netze zwischen den Kabeln, und Staub legte sich auf die Kontakte, während im Nachbarsgarten die Hühner scharrten.
Im Jahr 2005 schließlich stand Evans vor der Pensionierung. Bei der Gelegenheit wollte sie auch endlich die Ampex-Laufwerke aus ihrer Garage haben. Davon hörte Dennis Wingo. Der Raumfahrt- und Computerspezialist ahnte sofort, was da für wissenschaftliche Schätze in Evans' Garage lagerten. Er hatte die nötigen Kontakte, um ein Team hochqualifizierter Spezialisten zusammenzutrommeln, die in der Lage waren, den alten Bändern ihre Geheimnisse zu entlocken. LOIRP wurde ins Leben gerufen.
Erst schrubben, dann trocknen
Die ersten Schritte waren erstaunlich simpel. Ken Zin, ein pensionierter Ampex-Ingenieur, rückte mit Eimer und Bürste an. "Ken ließ uns die Laufwerke einfach nur mit klarem Wasser waschen und danach einige Tage an der Luft trocknen", erinnert sich Wingo auf SPIEGEL ONLINE. Bei den Schaltern wurde es schon komplizierter. "Die waren total korrodiert und mussten mit Lösungsmitteln gereinigt werden. Für die Kontakte haben wir dann Silberputzmittel benutzt."
Langsam kamen unter dem Dreck die hochkomplizierten Apparaturen wieder zum Vorschein. "Es war in etwa so, als ob man in Müllcontainern nach Wissenschaft suchen würde", beschreibt der Co-Teamleiter Keith Cowing die Arbeit. Schon bald stieß das LOIRP-Team auf weitere Schwierigkeiten. "Ein so teures System wie die Ampex-Bandlaufwerke hat viele spezial angefertigte Teile", sagt Wingo. "Das kann etwas so Simples sein wie die Gummirollen, die das Band transportieren. Aber all diese Teile mussten wir neu herstellen lassen."
Über die Jahre waren die meisten Gummiteile bröckelig geworden. Und die Schmierstoffe in den Motoren waren eingetrocknet: "Es hat allein Zehntausende Dollar gekostet, die Motoren wieder zum Laufen zu bringen." Noch teurer sind die Leseköpfe, die ständig im physischen Kontakt mit den Bändern stehen. "Das ist so, als würde man mit ganz feinem Sandpapier über die Köpfe schleifen", erklärt Wingo. Folglich müssen sie oft ersetzt werden. "Aber seit dem Beginn des digitalen Zeitalters nähert sich die Zahl der Hersteller, die solche Köpfe anfertigen, und der Menschen, die damit umgehen können, rapide der Null. Unser Ingenieur - der einzige Mensch, der das noch kann - ist jetzt fast 70 Jahre alt."
Arbeiten ohne Fast Food im McMoon
Zum Glück finanziert die US-Raumfahrtbehörde den größten Teil der LOIRP-Forschung. Sie stellt auch die Unterkunft, in der das Team sein Zuhause gefunden hat: ein früheres McDonald's Restaurant auf dem Gelände des Nasa Ames Research Center in Mountain View. "Früher habe ich ein paarmal hier gegessen," erzählt Wingo. Das kleine Häuschen, heute liebevoll McMoon genannt, bot gute Voraussetzungen für das Projekt. Hier gab es eine Klimaanlage, Toiletten und sogar eine Küche. Lediglich der Internetzugang und die Stromversorgung für die Hochleistungsrechner bedurften eines Upgrades.
Von weitem sieht das flache Gebäude noch immer aus wie ein Fast-Food-Restaurant. Doch im Fenster hängt die Piratenflagge - das Logo des LOIRP-Teams. Der Schädel und die gekreuzten Knochen verdeutlichen, als was sich die Wissenschaftler verstehen: "Techno-Archäologen" nennen sie sich. Wie ihre Kollegen draußen im Feld sind schließlich auch sie auf der Suche nach der Vergangenheit, wühlen in Dreck und Staub nach Daten-Skeletten.
Die analogen Daten, die das LOIRP-Team auf den alten Bändern findet, müssen in digitale Daten konvertiert werden, damit moderne Computer daraus wieder Bilder zusammensetzen können. Was am Ende dabei herauskommt, ist atemberaubend. So wie das erste Bild, das LOIRP der Öffentlichkeit präsentierte - die allererste Aufnahme unseres blauen Planeten von der Mondperspektive.
Neben den Bändern des Lunar Orbiter wertet LOIRP inzwischen auch andere historische Schätze aus. Jüngstes Projekt sind die Aufnahmen der "Nimbus"-Satelliten, die in den sechziger und siebziger Jahren Bilder der Erde aus ihrer polaren Umlaufbahn für meteorologische Forschungen lieferten. Wie die Lunar-Orbiter-Daten wurden auch sie von Ampex-FR-900-Laufwerken aufgezeichnet. Besonders interessant sind auf diesen alten Bildern die Ausdehnungen der Eiskappen an den Polen.
Aus ihnen können Klimaforscher wertvolle Erkenntnisse für ihre gegenwärtige Forschung ziehen. Aber es ist ein Wettlauf gegen die Zeit. "Wir werden nur noch ein oder zwei Jahre lang diese Bänder lesen können", sagt Wingo. "So lange eben, bis unser Ingenieur, der die Leseköpfe noch austauschen kann, in Rente geht."