Ausdehnung des Alls Raumzeit-Wellen provozieren Forscher
Die brillantesten Denker des vergangenen Jahrhunderts redeten sich über die Frage die Köpfe heiß: Ist das Universum statisch, dehnt es sich in alle Ewigkeit weiter aus oder kommt es vielmehr irgendwann zum "Big Crunch", dem Zusammensturz des Alls?
1929 hatte Edwin Hubble bewiesen, dass das All wächst, und zwar mit immer größerer Geschwindigkeit. 1998 kam noch ein weiteres Rätsel hinzu: Wissenschaftler fanden heraus, dass das Universum - nach derzeitigem Forschungsstand knapp 14 Milliarden Jahre alt - erst vor rund einer Milliarde Jahren seine Ausdehnung beschleunigt hat.
Kosmologen haben seitdem eine Reihe gewagter Erklärungen für das Phänomen ersonnen. Die am weitesten verbreitete ist die dunkle Energie: eine mysteriöse Kraft, die der Schwerkraft entgegenwirkt und das All immer schneller aufbläht. Allerdings wurde die dunkle Energie noch nie direkt nachgewiesen, obwohl sie immerhin 70 Prozent der Gesamtmasse des Universums ausmachen soll. Die ebenfalls noch nicht direkt beobachtete dunkle Materie soll dagegen nur 25 Prozent, die normale Materie gar nur 5 Prozent der Masse des Alls stellen.
"Größte Eselei meines Lebens"
Eine neue Theorie bietet einen ebenso eleganten wie umstrittenen Ausweg aus dem Dilemma. Sie basiert auf der bereits 1981 formulierten Inflationstheorie, der zufolge sich das Universum nach dem Urknall innerhalb eines winzigen Sekundenbruchteils unvorstellbar schnell ausgedehnt hat.
Nach Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie haben sich dabei kleine Wellen im Raumzeit-Gefüge gebildet. Sie sind gemeinsam mit dem Universum zu ungeheurer Größe gewachsen und lassen das All nun immer schneller anschwellen, schreiben Edward Kolb vom renommierten Fermilab in den USA und drei italienische Wissenschaftler im Fachblatt "Physical Review Letters".
"Wir haben erkannt, dass man nur diese Raumzeit-Wellen mit Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie kombinieren muss, um zu erklären, warum sich das Universum heute immer schneller aufbläht", erklärt Antonio Riotto, einer der Autoren des Artikels. Der Vorteil der Theorie liegt auf der Hand: Sie benötigt keine exotische Zutat wie die dunkle Energie oder deren Vorläuferin, Einsteins kosmologische Konstante, die das Jahrhundertgenie später selbst als "größte Eselei seines Lebens" verworfen hat.
Der Nachteil: Das Gedankengebäude setzt die Existenz eines "globalen Universums" von wahrhaft kolossalen Ausmaßen voraus, von dem die Menschen nur einen winzigen Teil beobachten können. Und die Beweise für die Richtigkeit des Rechenwerks liegen leider hinter diesem Beobachtungshorizont.
Treiben Raumzeit-Wellen die Expansion an?
Da sich das All beim Urknall mit Überlichtgeschwindigkeit ausgedehnt hat, so die Forscher, sei es um ein Vielfaches größer als das "lokale Universum" - jener Bereich, dessen Licht in den vergangenen knapp 14 Milliarden Jahren die Erde erreicht hat. Die Wellen in der Raumzeit, die während der frühen Ausdehnung des Universums aus Quantenfluktuationen entstanden sind, seien mitgewachsen - und mittlerweile größer als unser "lokales Universum".
"Für die Raumzeit-Wellen trifft Ähnliches zu wie für die hypothetische dunkle Materie", erklärt Riotto. "Ihre Energiedichte nimmt langsamer ab als die Energiedichte der normalen Materie." Da der Einfluss der Wellen so mit der Zeit immer stärker gegenüber dem bremsenden Einfluss der Schwerkraft werde, dehne sich das All immer schneller aus. Sollte das zutreffen, wären weder die dunkle Energie noch andere Konstrukte wie Einsteins kosmologische Konstante notwendig, um der Schwerkraft in den Formeln entgegen zu wirken.
Ohnehin findet Riotto die bisherigen Erklärungsansätze für die schneller werdende Ausdehnung des Alls wenig plausibel. "Die Menge an dunkler Energie, die für die beobachtete Ausdehnung des Alls nötig ist, ist äußerst schwierig mit den bekannten Naturgesetzen zu vereinbaren", sagte der Wissenschaftler im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. "Kein theoretisches Modell, nicht einmal die Supersymmetrie oder die Stringtheorie, kann das leisten. Wenn die Menge an dunkler Energie wirklich das von den Theorien vorhergesagte Ausmaß besäße, hätte sich das Universum mit einer so phantastischen Geschwindigkeit ausgedehnt, dass keine der uns bekannten Dinge im Kosmos existieren würden."
Provokation der Forschergemeinde
Mit ihrer mutigen These haben Riotto und seine Kollegen einen Disput ausgelöst, der es bis in den Online-Nachrichtendienst des US-Fachblatts "Science" geschafft hat. Christopher Hirata und Uros Seljak von der Princeton University haben bereits einen Gegenartikel veröffentlicht, in dem sie Riotto, Kolb und Matarrese Rechenfehler vorwerfen. Die drei Forscher hätten in ihren Formeln zentrale Variablen außer Acht gelassen und wären erst dadurch zu ihrem Ergebnis gekommen. "Das passiert schon mal", sagte Seljak gegenüber "Science Now". "Das sind eben keine einfachen Berechnungen."
Andere Wissenschaftler applaudieren den beiden Kritikern. Edmund Bertschinger vom Massachusetts Institute of Technology sagte, er sei "definitiv einer Meinung" mit Seljak und Hirata. Die beiden Forscher hätten die Diskussion erfolgreich zu einem Ende gebracht.
Kolb aber möchte nicht so schnell aufgeben. Seljak und Hirata hätten ihrerseits kleine Rechenfehler begangen, die ihre Kritik entkräfteten. "Aber ihr Beitrag schärft unser Denken", sagte Kolb. "Wir schreiben bereits einen weiteren Artikel."