
Best of "Envisat": Zehn Jahre für die Forschung
"Envisat"-Havarie Völlig losgelöst
Berlin - Stattliche 49 Meter im Durchmesser misst die Radarkuppel des Fraunhofer-Instituts für Hochfrequenzphysik und Radartechnik im nordrhein-westfälischen Wachtberg. Unter der Hülle beobachtet der 34-Meter-Parabolspiegel des "Tira"-Radars ("Tracking und Imaging Radar") derzeit den riesigen europäischen Forschungssatelliten "Envisat". Die Anlage kann Satelliten und Weltraumschrott so präzise verfolgen wie nur wenige andere Geräte weltweit - wohl nur das US-Militär hat mehr zu bieten.
Die Spähertruppe aus Wachtberg muss das "Envisat"-Rätsel schnell lösen. Der Kontakt zu dem acht Tonnen schweren Allzweck-Erdobservatorium war am vergangenen Wochenende völlig überraschend abgerissen. Erst nach Tagen hatte die Europäische Weltraumorganisation (Esa) das Problem öffentlich gemacht: Nach einem Überflug über die nördliche Mittelmeerregion hatte sich "Envisat" einfach nicht mehr gemeldet. Ein paar Radarbilder der Kanaren waren sein - vorerst - letztes Werk.
Den Forschern fehlt nun eine wichtige Datenquelle. Die Lücken sind mit anderen Satelliten nicht ohne weiteres zu schließen - auch wenn einige Wissenschaftlerteams aushilfsweise auf zwei kanadische Radarsatelliten setzen.
Nach dem ersten Schock stellte man sich bei der Esa die bange Frage: Hat womöglich eine Kollision mit Weltraumschrott den Satelliten lahmgelegt? Nach den "Tira"-Beobachtungen gilt solch ein Szenario als unwahrscheinlich: "Es gibt keine Hinweise auf äußere mechanische Beschädigungen", sagt Ludger Leushacke vom Fraunhofer-Institut für Hochfrequenzphysik und Radartechnik SPIEGEL ONLINE.
Bei einer Auflösung von etwa zehn Zentimetern könne man auf den aktuellen Radaraufnahmen natürlich keine Mikroeinschläge sehen. Doch insgesamt sehe der Satellit durchaus intakt aus. Er fliege im richtigen Orbit, "die Richtung zur Sonne stimmt auch".
Französischer Satellit soll Fotos machen
Doch warum verweigert "Envisat" dann die Arbeit? Auch eine Beschädigung des Satelliten durch einen Sonnensturm schließt man bei der Raumfahrtorganisation derzeit aus, wie Volker Liebig, der Direktor der Organisation für Erdbeobachtungsprogramme, am Freitag in einer eilig einberufenen Telefonkonferenz erklärte. Klar ist einzig die Diagnose der Symptome: "Bis heute waren alle Versuche erfolglos, den Satelliten zu kontaktieren", so Liebig. Auch in den zur Erde gesandten Daten aus den Stunden vor dem Ausfall lasse sich kein Hinweis auf ein Problem feststellen.
Bei der Esa hofft man darauf, den zickigen Technik-Oldie - die ursprüngliche Missionszeit von "Envisat" ist schon vor Jahren abgelaufen - doch noch in den Griff zu bekommen. Manch einer denkt an den zeitweise defekten Satelliten "Goce". Den hatten Spezialisten im Jahr 2010 nach wochenlangem Hin und Her irgendwann wieder arbeitsfähig gemacht, indem sie zwei halbkaputte Computersysteme mit neuer Software zu einem Ganzen zusammenfügten.
Doch während es selbst in den schlimmsten Zeiten noch eine Minimalkommunikation zwischen "Goce" und dem Kontrollzentrum in Darmstadt gegeben hatte, schweigt "Envisat" nun ganz. Ein Problem mit der Energieversorgung scheint ihn zu plagen. Viel mehr weiß man nicht.
Die Retter können nicht allzu viel tun, außer zu warten. Und sie hoffen auf neue Hilfe bei der Fehlersuche: Am Sonntag wird dazu ein anderer Satellit seinen amtsmüden Kollegen gezielt beobachten. Ein Flugkörper der französischen "Pleiades"-Konstellation wird "Envisat" dann aus etwa 120 Kilometern Entfernung überprüfen, wenn sich beide im Orbit nahe kommen.
Auch den französischen Satelliten "Spot 4" hat "Pleiades" schon einmal untersucht. Weil die Kameras normalerweise aber nur die Erde im Blick haben, sind sie nicht unbedingt für die Beobachtung von Artgenossen gedacht. Deswegen müssen Experten die geschossenen Bilder noch aufwendig bearbeiten. Und das könne mehrere Tage dauern, heißt es bei der Esa.
Im schlimmsten Fall wird "Envisat" zu Weltraumschrott
Im schlechtesten Fall kann der Kontakt zu "Envisat" nie wieder aufgebaut werden. Dann fliegt er funktionslos als riesiges Stück Weltraumschrott um die Erde, in rund 790 Kilometern Höhe. "Unsere Experten gehen davon aus, dass er dort mehr als hundert Jahre bleiben wird", sagt Esa-Direktor Volker Liebig. An eine kontrollierte Rückholung des Satelliten habe beim Start vor gut zehn Jahren niemand gedacht.
Dumm nur, dass "Envisat" mit seinen Maßen - 26 mal 10 mal 5 Metern - eine riesige Zielscheibe für andere Schrottteile ist. Ein Dutzend Mal in den vergangenen Jahren haben Esa-Mitarbeiter mit gezielten Steuermanövern ihren Satelliten vor solchen Zusammenstößen geschützt. Das ist nun nicht mehr möglich, wenn "Envisat" weiter stumm bleibt.
Bei einem Zusammenstoß könnten größere Mengen an zusätzlichem Weltraummüll entstehen und ein bereits jetzt gravierendes Problem noch weiter verschlimmern. Immerhin: In diesem unerfreulichen Fall bekämen die Radar-Späher aus Wachtberg wohl so einiges zu sehen.