Neue Esa-Sonde "Gaia" soll 3-D-Karte der Milchstraße zeichnen
Egal, ob raffinierter Gedankenblitz oder Bonmot - wer gelegentlich den Kurznachrichtendienst Twitter nutzt, kennt das Problem: Bei 140 Zeichen ist Schluss. Also muss man lernen, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Das neue Vorzeigeprojekt der europäischen Weltraumforschung steht nun gewissermaßen vor einer ähnlichen Herausforderung. Das am Donnerstag ins All startende Teleskop "Gaia" soll die bisher größte und detaillierteste 3-D-Karte unserer Milchstraße anfertigen. Und weil die zwei Tonnen schwere Sonde eine Digitalkamera mit bisher ungekannter Auflösung an Bord hat, muss sie sich gut überlegen, welche Daten sie überhaupt zur Erde funkt.
Mit zwei Teleskopen soll die Sonde Position, Farbe und Helligkeit von insgesamt einer Milliarde Sterne erfassen. Bei etwa jedem zehnten von ihnen wird auch das Strahlungsspektrum ermittelt. Daraus lässt sich unter anderem die chemische Zusammensetzung erkennen. Dafür hat "Gaia" einen Bildsensor an Bord, der aus 106 einzelnen Detektoren besteht. Zusammen bringen sie es auf fast eine Milliarde Pixel. Das ist etwa 50-mal so viel, wie eine Profi-Spiegelreflexkamera vorweisen kann.
"'Gaia' ist die größte Entdeckungsmaschine der Astronomie", lobt Álvaro Giménez Cañete, Esa-Direktor für Wissenschaft und robotische Exploration. Dadurch werde Europa "zum Vorreiter in Sachen Präzisionsastronomie". Billig ist das nicht, die Missionskosten liegen bei 740 Millionen Euro. Dazu kommen noch einmal 200 Millionen Euro für die Datenverarbeitung.
200.000 DVDs wären zur Speicherung nötig
Selbst das neue Hightech-Gerät kann sich gerade einmal ein Prozent aller Sterne in unserer Galaxis ansehen. Die Milchstraße ist eine Scheibe, rund 100.000 Lichtjahre im Durchmesser und 3000 bis 16.000 Lichtjahre dick. Und selbst elementare Fragen - wie etwa nach der Zahl der Spiralarme unserer Galaxie - sind schwierig zu beantworten. Klar scheint aber: Die Milchstraße verfügt über rund hundert Milliarden Sonnen.

Teleskop "Gaia": Vermessung des Sternenhimmels
Und selbst einen Bruchteil von ihnen zu untersuchen, ist ein gigantischer Job: Pro Tag soll "Gaia" etwa 40 Millionen Einzelmessungen vornehmen - und so 50 Gigabyte an Daten zur Erde schicken. Dort lauschen die 35-Meter-Antennen der Esa in New Norcia (Australien), Cebreros (Spanien) und in Malargüe (Argentinien) auf die Signale. Gesteuert wird die Mission vom Europäischen Satellitenkontrollzentrum in Darmstadt.
Fünf Jahre lang soll das so gehen, wenn alles nach Plan läuft. In dieser Zeit soll jeder beobachtete Stern etwa 70 Mal ins Visier genommen werden. Dabei kommen nach Esa-Berechnungen 900 Milliarden Beobachtungsdaten mit einem Volumen von insgesamt einem Petabyte zusammen. Sechs Rechenzentren kümmern sich um die Datenflut, für deren Speicherung 200.000 DVDs nötig wären.
"Galaktisches Mikroskop"
Eine Gruppe von mehr als 430 Wissenschaftlern ("Gaia Data Processing and Analysis Consortium ") soll zehn Jahre lang die Informationen auswerten. Erste Teilergebnisse werden wohl erst in drei bis vier Jahren vorliegen, die Endauswertung gar frühestens ab 2022.
Wofür nun der ganze Aufwand? "Gaia" soll nicht nur den Himmel genauer vermessen als Vorgängermissionen wie "Hipparcos", bei der die Europäer Anfang der neunziger Jahre 2,5 Millionen Sterne kartiert hatten. Die neue Sonde soll auch kosmische Objekte neu entdecken, darunter:
- bis zu 250.000 unbekannte Asteroiden und Kometen in unserem Sonnensystem,
- Hunderttausende Quasare, also Kerne weit entfernter aktiver Galaxien,
- Tausende Exoplaneten mit Planetensystemen,
- Tausende von Supernovae sowie
- Zehntausende Braune Zwerge, also Sterne, deren Masse zu gering war, um in ihrem Inneren das kosmische Feuer der Kernfusion zu starten.
Gebaut wurde die Sonde beim Raumfahrtkonzern Astrium in Frankreich. Eric Béranger, der Chef der zuständigen Tochterfirma, nennt "Gaia" ein "galaktisches Mikroskop" und das "Auge des Universums". Das ist einerseits feinster PR-Sprech, andererseits ein Hinweis darauf, wie kompliziert die Entwicklung war.
Rund 20 Jahre hat die Vorbereitung für die Mission gedauert. Zuletzt hatte sich der Start noch einmal verzögert, weil buchstäblich in letzter Sekunde Teile der Kommunikationstechnik ausgewechselt werden mussten.
Nun aber soll es endlich losgehen. Nach dem Start mit einer Sojus-ST-Rakete vom Startplatz in Französisch-Guayana braucht "Gaia" rund einen Monat bis zu ihrem Arbeitsplatz. Das liegt daran, dass sie ihre Beobachtungen am sogenannten Lagrange-Punkt L2 machen wird, anderthalb Millionen Kilometer von der Erde entfernt. Dort heben sich die Gravitationskräfte von Sonne und Erde auf. Die Sonde kann also im Gleichtakt mit unserem Planeten um das Zentralgestirn ziehen.
Ansonsten gilt es, dessen Einfluss weitestgehend zu meiden. Die Sonne strahlt so hell, dass sie die sensiblen Kamerachips blenden würde. Auch Mond, Erde und viele Sterne sind für "Gaia" zu hell. Also hat die Sonde die Strahlungsquellen gewissermaßen im Rücken. Eine Zehn-Meter-Konstruktion an der Unterseite, die man sich wie eine Art Küchenschürze vorstellen kann, macht das möglich. Sie wird erst am Beobachtungspunkt ausgeklappt und dient auch der Energieversorgung der Sonde.
Was Twitter angeht: "Gaia" hat natürlich längst einen eigenen Account . Und kann dort schon einmal lernen, möglichst viele Informationen auf wenig Platz unterzubringen.
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