Rätselhafte Neutrinos Detektor für die Geisterfahrer des Kosmos
Vier Australiern gelang vergangene Woche die Erstbesteigung des fast 5000 Meter hohen Gipfels des Vinson Massivs, eines der höchsten Berge in der Antarktis. 1200 Kilometer weiter erreichten zwei neuseeländische Abenteurer zu Fuß den Südpol. Der weiße Fleck, der den unteren Rand unserer Weltkarten ausfranst, ist immer noch die Projektionsfläche für Abenteurer- und Männerfantasien: Weiße Weite, eisige Stürme, Unendlichkeit.
Unter der Oberfläche der Eiswelt regen subtilste Signale aus einer ganz anderen Unendlichkeit die Fantasie an: Höchst flüchtige Teilchen ohne elektrische Ladung und wahrscheinlich beinahe masselos, künden von Supernovae, von zusammenstoßenden schwarzen Löchern, von der Kernfusion im Inneren von Sternen.
Genau am Südpol suchen Physiker in einem Eiswürfel mit einem Kilometer Kantenlänge und rund einer Milliarde Tonnen Gewicht nach den auch als Geister- oder Phantomteilchen bekannten: "Neutrinos haben das Potential, ideale kosmische Boten zu sein", schreibt der Physiker Francis Halzen in der Wissenschaftszeitschrift "Science".
Das renommierte Blatt hob in seiner aktuellen Ausgabe den Riesendetektor im Eis aufs Titelblatt. Gleich sechs Fachartikel behandelten die ominöse subatomare Teilchenfamilie.
Im ewigen Eis kosmische Partikel befragen
"Kosmologen haben in den letzten Jahren enorme Fortschritte gemacht, indem sie die Masse des Universums, seine Geometrie und seine Ausbreitungsgeschwindigkeit bestimmt haben", fasst die "Science"-Redaktion zusammen. "Aber diese Einblicke haben auch enthüllt, was wir alles noch nicht über das Universum wissen." Nun, so "Science", liege die Hoffnung auf dem relativ neuen Forschungsfeld der Teilchenastrophysik - das kosmische Partikel einfangen will, um die Bausteine des Universums zu enträtseln.
Diese Bausteine haben exotische Namen, schwer vorstellbare Eigenschaften und wenn Physiker über sie sprechen, gemahnt es den Laien nicht selten an blanke Esoterik. So zum Beispiel: Billionen von Neutrinos fliegen jede Sekunde durch unseren Körper. Doch wir spüren nichts davon. Auch nur ein Einziges zu fangen, ist eine gewaltige technische Herausforderung. Eingeweihten jedoch können diese kosmischen Geisterfahrer viel über die Prozesse in der Unendlichkeit des Universums enthüllen.
Leider werden diese Spuren kosmischer Ereignisse nur allzu oft verwischt - weil auch subatomare Teilchen miteinander interagieren, sich dabei ändern oder zu neuen verbinden können. Nur Neutrinos tun das kaum. "Ihre Interaktionen mit Materie sind extrem schwach", beschreibt Halzen. "Dies kann durchaus von Vorteil sein, weil uns unversehrte hochenergetische Neutrinos vom Rand des Universums erreichen könnten, von der unmittelbaren Nachbarschaft schwarzer Löcher, und - hoffentlich - von den nuklearen Brennöfen, in denen die kosmische Strahlung geboren wurde."
Erst im vergangenen Jahr hatten US-Physiker in einem Experiment Hinweise darauf gefunden, dass Neutrinos doch eine Masse besitzen, wenn auch eine sehr geringe. Vorher hielt man sie für gänzlich masselos.
1912 entdeckt - ein Jahrhundert später entschlüsselt?
Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die kosmische Hintergrundstrahlung entdeckt. In den fünfziger Jahren wurden kosmische Neutrinos als deren Teil identifiziert. 1987 wurde erstmals eine Supernova anhand von reisenden Geisterteilchen belegt - 19 Stück genügten den Forschern damals. Seit dem Jahr 2000 ist in der Antarktis schon der kleine Detektor Amanda in Betrieb. Fleissig sammelt er Neutrinos - vor allem um die Machbarkeit seines Designs unter Beweis zu stellen:
Glaskugeln von der Größe eines Basketballs werden mit Photodetektoren gefüllt an einer langen Kette in Bohrlöcher abgelassen, wo sie zwischen 1450 und 2450 Metern Tiefe im ewigen Eis hängen. In Ruhe, Kälte und Finsternis.
Trifft ein Neutrino - was geradezu lächerlich unwahrscheinlich ist - auf einen Atomkern der Wassermoleküle im Eis, entsteht ein blauer Lichtblitz. Den nehmen die Sensoren der Glaskugeln im Eis drumherum wahr.
Nur Blitze, die von unten kommen, wird der neue Detektor namens IceCube messen. Denn jene hochenergetischen Neutrinos, die auf dem Weg zum Südpol die gesamte Erde durchquert haben, müssen kosmischen Ursprungs sein. Messen mehrere Sensoren einen Blitz, lassen sich auch Energie und Richtung bestimmen. Das erlaubt Rückschlüsse auf den Ursprung des Teilchens.
Vergrabene Detektoren sollen den Himmel öffnen
Vor knapp einem Jahr, im Februar 2006, haben IceCube-Sensoren das erste Geisterteilchen am Südpol gemessen, das klar kosmischen Ursprungs war. Die beteiligten Wissenschaftler analysieren gerade die Daten der ersten sechs Monate. Der Riesendetektor - für die Physik ein ähnliches Großprojekt wie der Large Hadron Collider (LHC) unter den Genfer Bergen oder der internationale Fusionsreaktor Iter - funktioniert prinzipiell, soviel kann man jetzt bereits sagen. In den Neutrino-Beiträgen der aktuellen "Science" blicken Forscher voraus. Sie erhoffen sich in den kommenden Jahren gewaltige Fortschritte in der Physik:
- Michael Turner von der University of Chicago argumentiert, dass Geheimnisse der Neutrinos helfen könnten, die Theorie der kalten schwarzen Materie zu klären. Diese beschreibt, wie das Universum sich formte - und dessen sichtbarer Teil entstand.
- Bernard Sadoulet von der University of California in Berkeley schreibt, um tiefer in die Frage nach der Dunklen Materie einzusteigen, müssten Partikel-Kandidaten wie die bislang nur als Hirngespinste existierenden Wimps entdeckt werden. Neue Detektoren sollen dabei helfen.
- Eli Waxman vom israelischen Weizmann-Forschungsinstitut beschreibt die Entdeckung von Neutrinos aus der Sonne - und wie mit den neuen Detektoren auch Geisterteilchen aus ferneren Sternen entdeckt und analysiert werden können.
- Felix Aharonian vom Heidelberger Max-Planck-Institut für Kernphysik findet, dass neue Detektoren die Gammastrahlenphysik zu einer "wahrhaft beobachtenden Disziplin" gemacht haben. Schluss mit der Beschränkung auf Spekulationen, jetzt wird gemessen, lautet der Tenor. IceCube und Co werden die Zahl bekannter Quellen hochenergetischer Strahlung im All dramatisch erhöhen, glaubt Aharonian - "mit gewaltigen Auswirkungen auf die Physik, die Kosmologie und Teilchen-Astrophysik."
Seit der Inbetriebnahme im Februar 2000 hat Amanda mit 650 Glaskugeln nur durchschnittlich vier Geisterteilchen pro Tag gemessen. Seit dem Antarktissommer zur Jahreswende 2004/2005 haben die ersten IceCube-Sensoren Amanda ergänzt. Aber erst im Südsommer der Jahre 2008/2009 rechnen die Forscher mit dem kompletten Kubikkilometer-Detektor. Mit den darin beobachteten blauen Blitzen wollen die Physiker eine völlig neue Karte des Universums basteln: eine, auf der die Quellen der Geisterteilchen eingezeichnet sind.
Forschung an den unwirtlichsten Orten
Rund 300 Millionen US-Dollar soll IceCube insgesamt kosten. Einen Großteil der Kosten tragen die USA. Deren National Science Foundation (NSF) bietet den Neutrinosforschern auch Obdach am Ende der Welt: Sie können die Amundsen-Forschungsstation der NSF am Südpol benutzen. Die Glaskugeln mit den empfindlichen Detektoren kommen aus den USA, Schweden und Deutschland.
"Die Ursprünge der energiereichsten Teilchen, die je beobachtet wurden, der kosmischen Strahlung, werden wir in den nächsten Paar Jahren zu entschlüsseln beginnen", schreibt die Astrophysikerin Angela Olinto von der University of Chicago in "Science". Binnen eines Jahrhunderts nach der Entdeckung der kosmischen Strahlung im Jahr 1912 durch Victor Hess, könne deren "Geheimnis entschlüsselt" werden, so Olinto.
Hess hatte Anfang des 20. Jahrhunderts mit Elektroskopen experimentiert, die er an Ballons hängend aufsteigen ließ - bis in Höhen von fünf Kilometern. So fand er heraus, dass die ionisierende Strahlung in der Atmosphäre nicht von der Erde ausging, sondern vom Weltall. Um zu bestimmen, wo genau sie herrührt, bohren Hess' Erben nun in Richtung Südpol.
Ihre Kollegen, die an Geschwister-Projekten von IceCube arbeiten, haben sich kaum wirtlichere Standorte ausgesucht: Technisch vergleichbare Detektoren werden derzeit am Boden des kaspischen Meeres aufgebaut und in 2400 Metern Tiefe am Grund des Mittelmeers.