Raketenbauer Sergej Koroljow Der geheimnisvolle "Sputnik"-Vater

Raketen-Konstrukteur Sergej Koroljow war einer der geheimnisvollsten Männer der Sowjetunion. Kreml-Chef Nikita Chruschtschow mochte ihn besonders - dies half dem eigensinnigen Ingenieur, mit "Sputnik" den ersten Satelliten vor den Amerikanern ins All zu schicken.
Von Simone Schlindwein

Der Name des sowjetischen Raketenkonstrukteurs durfte selbst im Kreml - wenn überhaupt - nur geflüstert werden. Lediglich eine Handvoll Sowjetfunktionäre kannte ihn. Sergej Koroljow lebte in Städten, die auf keiner Landkarte verzeichnet waren. Denn die Entwicklung der sowjetischen Raketentechnik war streng geheim. Selbst als der erste Satellit, der "Sputnik", im Oktober 1957 mit seiner Rakete die Erdumlaufbahn erreichte, stand Koroljow in keiner Zeitung. Bis zu seinem Tod im Jahr 1966 blieb er einer der geheimnisvollsten Männer der Sowjetunion.

Amerikanische Geheimdienstler nannten den unbekannten Konstrukteur der Sputnik-Rakete den "Integral". Dies ist der Name der Rakete aus dem berühmten Science-Fiction Roman "Wir" des russischen Schriftstellers Jewgenij Samjatin. Auch in Samjatins fiktiver Gesellschaft, in der jede Individualität verboten ist, hat der Raketenbauer keinen Namen, sondern trägt stattdessen einen simplen Buchstaben-Zahlen-Code. Doch der geheime Vater des "Sputnik" war nicht nur einfach eine Nummer im sowjetischen Wissenschaftlerkollektiv. Seine russischen Ingenieurs-Kollegen nannten ihn nur "Korol", was übersetzt der "König" bedeutet.

Zwangsarbeit für die Rote Armee

Der eigensinnige Weltraumenthusiast Koroljow war kein Vorzeige-Genosse - im Gegenteil: Als angeblicher Volksfeind überlebte er den Gulag in Kolyma am Polarkreis. Im Jahr 1938 hatten die Spezialeinheiten des Innenministeriums (NKWD) den jungen Tüftler und Ingenieur, der schon als Student die ersten kleinen Raketen fliegen ließ, wegen angeblicher Sabotage abgeführt.

Viele seiner damaligen Studienkollegen wie den späteren "Sputnik"-Erbauer Michail Tichonrawow, den Triebwerksexperten Walentin Gluschko oder Koroljows Professor an der Moskauer Technischen Hochschule, den Flugzeugkonstrukteur Andrej Tupolew, ereilte dasselbe Schicksal. Sie alle trafen sich im Nordpolarkreis in einem Speziallager für Wissenschaftler und Ingenieure wieder. Auf Befehl des NKWD bastelten sie in diesem Gefängnis ohne Zellen bis 1944 an neuen Düsenantrieben für die sowjetischen Kriegsbomber.

Als der frisch entlassene ehemalige Häftling Koroljow nach der Kapitulation der Nazis 1945 in Ostdeutschland eintraf, um die deutschen Raketenwerke in Peenemünde und Nordhausen zu inspizieren, war er für seine Ingenieurskollegen, die in den verschiedenen Rüstungsbranchen ihren Kriegsdienst geleistet hatten, ein Niemand. So beschreibt ihn Boris Tschertok, 96, der Entwickler des Raketenlenksystems und langjährige Kollege Koroljows.

Innerhalb weniger Monate konnte er jedoch mit seiner Leidenschaft für Raketen sämtliche Vorgesetzte im Militär und sogar Josef Stalin überzeugen, der die Entscheidungen über die Raketenentwicklung persönlich fällte. Im Rang eines Obersts übernahm Koroljow 1946 die Leitung einer Wissenschaftlergruppe, um die ersten Raketenstarts zu organisieren. Ehrgeizig arbeitete er sich zum Chefkonstrukteur des sowjetischen Raketenprojekts hoch. In Dmitrij Ustinow, dem damaligen Rüstungsminister, fand er einen Fürsprecher. Dieser erlaubte ihm anstatt die deutsche V2 nachzubauen ein eigenes Modell zu entwickeln und an seine Ideen vor der Verhaftung anzuknüpfen.

Als Stalin 1953 starb, war Koroljow noch nicht offiziell von seiner Vergangenheit als Häftling rehabilitiert. Er hatte gerade erst einen Antrag auf die Parteimitgliedschaft gestellt. Dennoch war er der wichtigste Mann auf dem geheimen Raketenschießplatz in der südlichen Wolgaregion. Unter ihm arbeiteten mehrere hundert Männer an dem wichtigsten Rüstungsprojekt der Sowjetunion mit dem Code-Namen "Baikal": die Integration eines nuklearen Sprengkopfes in eine Interkontinentalrakete.

Chruschtschow sprach endlos über Koroljow

Der Stalin-Nachfolger Nikita Chruschtschow verliebte sich regelrecht in den Chefkonstrukteur, als er ihn erstmals in der geheimen Raketenschmiede bei Moskau besuchte. Koroljow erklärte ihm geduldig die Raketentechnik. Chruschtschows Sohn Sergej, später selbst Raketeningenieur, erzählt: "Mein Vater konnte endlos über ihn sprechen."

Koroljow bekam sein eigenes rotes Telefon mit einer Direktleitung in den Kreml. Das ermöglichte ihm, die langsamen offiziellen Dienstwege zu umgehen, indem er Chruschtschow anrief und die Entscheidungen von höchster Stelle absegnen ließ.

Über seinen Einfluss auf den Generalsekretär hievte er im Frühjahr 1957 den "Sputnik" in die Rakete. Die Langstreckenrakete mit dem Codenamen R-7 musste in diesem Jahr eine Serie an Starttests bestehen, bevor die Ingenieure den Sprengkopf mit der Wasserstoffbombe darin einbauen konnten. Doch die Versuche schlugen fehl, die Rakete stürzte immer wieder ab, oder die Bombenattrappe löste sich nicht aus der obersten Stufe. "Daraufhin haben die Entwickler der Wasserstoffbombe gesagt, dass sie uns ihre Waffe nicht anvertrauen können", erinnert sich Tschertok. Die Ingenieure mussten einen neuen Gefechtskopf bauen, und das brauchte Zeit.

Doch zwei Raketen waren noch übrig, und das war für Koroljow die Gelegenheit, seinen Traum von einem Flug ins Weltall im Herbst 1957 endlich wahr zu machen. Als Chruschtschow das nächste Mal im Forschungsinstitut die Raketen besichtigte, ließ sich Koroljow von ihm die Erlaubnis geben, mit den zwei übrig gebliebenen Raketen Satelliten in die Erdumlaufbahn zu schießen: den ersten "Sputnik" mit einem eingebauten Radiotransmitter und "Sputnik 2" mit der Hündin Laika an Bord.

"Machen wir es so, wie ich es sage"

Für diesen Coup, den der spätere Raketeningenieur Sergej Chruschtschow als bloßes "Entertainment" bezeichnete, erhielt Koroljow den Leninpreis und eine Villa in Moskau, in der er bis zu seinem Tod 1966 lebte. Sein größter Erfolg war jedoch der erste bemannte Raumflug von Jurij Gagarin 1961, der ihm zum zweiten Mal den sowjetischen Verdienstorden "Held der sozialistischen Arbeit" bescherte. Die ambitionierten russischen Pläne für bemannte Flüge zum Mond scheiterten nach Koroljows Tod im Jahre 1966 - vor allem wegen großer Probleme mit der Triebwerkstechnik, die seine Nachfolger nicht in den Griff bekamen.

"Da hat sich der Herrgott etwas einfallen lassen und uns mit Koroljow einen Mann geschickt, der genau die Eigenschaften besaß, mit denen man den Vorstoß in den Weltraum schaffen konnte", sagt der Freund und ehemalige Kollege Tschertok noch heute voller Bewunderung.

Doch der jähzornige und eigensinnige Manager des Raketenprogramms war auch ein gefürchteter Machtmensch. Keinem aus seinem Team habe er je das "Du" angeboten, erinnert sich Tschertok. Das schnellste Auto auf dem Parkplatz vor dem Forschungsinstitut war sein deutscher, roter Audi-Sportwagen, für den ihn alle bewunderten. "Doch keinem seiner Freunde erlaubte er je, damit zu fahren."

Der damalige Doktorand unter Koroljow, Eugene Demin, erinnert sich an den typischen Satz, wie Koroljow langwierige Diskussionen vom Tisch fegte: "Finden wir eine Kompromisslösung – machen wir es so, wie ich es sage."

Kalter Krieg im Orbit: Lesen Sie in der Titelgeschichte des aktuellen SPIEGEL, wie mit dem "Sputnik"-Start der Aufbruch ins All begann.

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