Russische Raumfahrt Sibirier klagen gegen Raketentrümmer-Regen
Plötzlich knallte es laut. Kinder schrien erschrocken auf. Der Schäfer Boris Urmatow hastete aus seiner Holzhütte in der südwestlichen sibirischen Einöde. Einige Meter vor seiner Tür lag ein Trümmerhaufen: ein dreieinhalb Meter langes Stück Schrott aus Aluminium. Wieder einmal war nach dem Start einer russischen Proton-M-Rakete vom rund 1600 Kilometer entfernten Weltraumbahnhof Baikonur ein Treibstofftank vom Himmel gefallen.
Urmatow hat das nun satt. Er fürchtet, dass der Raketenschrott irgendwann seine Herde trifft. Dann könnte er seine Familie nicht mehr ernähren. Außerdem muss er die Tiere von den Treibstofflachen fern halten. Erst vor kurzem verlor der Bauer Sergej Kasantsew vier seiner Pferde: Sie hatten Wasser aus der Pfütze getrunken, die ein heruntergefallener Treibstofftank hinterlassen hatte. Kurz danach starben sie an Vergiftung.
Bauer Kasantsew und Schäfer Urmatow wollen jetzt vor Gericht auf Schadenersatz klagen. Umgerechnet knapp 30.000 Euro fordert Urmatow von Roskosmos. Vertreter der russischen Weltraumbehörde sind daraufhin am vergangenen Wochenende in die südwestsibirische Altai-Region gereist, um den Schrottregen vor Ort zu untersuchen. "Wir sind offen", erklärt Roskosmos-Sprecher Alexander Worobijow, "doch viele Leute versuchen, aus diesen Unfällen Kapital zu schlagen". Außerdem habe das Katastrophenschutz-Ministerium schon Untersuchungen durchgeführt und keine hochgiftigen Substanzen auf der Wiese gefunden, auf der Kasantsews Pferde gegrast haben.
Schrottplatz der russischen Raumfahrt
Die bergige Altai-Region nahe der kasachischen Steppe verkommt zur Müllhalde der russischen Raumfahrt. Seit die Sowjets vor 50 Jahren den Weltraumbahnhof Baikonur in Betrieb genommen haben, ist reichlich Schrott vom Himmel gefallen. Sobald die Treibstofftanks nach dem Raketenstart leer sind, trennen sie sich ab und zerbersten am Boden.
Noch schlimmer können die Folgen sein, wenn ein Start misslingt und die Rakete samt Satellit am Himmel explodiert. Dann regnet es Millionen kleiner Einzelteile, die mit Überschallgeschwindigkeit auf der Erde aufschlagen. Erst im September vergangenen Jahres zerbarst eine Proton-M mit einem japanischen Satelliten an Bord zwei Minuten nach dem Start und krachte nicht weit von der kasachischen Stadt Scheskasgan auf die Erde.
Die russischen Behörden haben deswegen entlang der Grenze zu Kasachstan einen Landstrich abgesteckt, der als gefährliches Niederschlagsgebiet gilt. Die Menschen, die dort leben, würden mindestens 24 Stunden vor einem Schrott-Bombardement gewarnt, erklärt Worobijow. Auf Schadensersatz können die Bewohner der gefährdeten Landstriche dann aber nicht klagen.
Raumfahrtbehörden und Satellitenbetreiber dürften sich insgeheim freuen, wenn der Müll statt im All auf der Erde landet. Denn die rasant steigende Menge an Unrat im Orbit gefährdet nicht nur Satelliten, sondern auch die Internationale Raumstation ISS und die darin arbeitenden Astronauten.
Gefahr für Satelliten und Raumfahrer: Wie selbst kleine Partikel im Orbit enormen Schaden anrichten können
Erst im Februar explodierte die russische Oberstufe Breeze-M einer Proton-Rakete. Fast ein Jahr war sie nach einem Fehlstart orientierungslos um die Erde gegeistert, bis sie nach einer Explosion in bislang gezählte 1111 Einzelteile zersplitterte. Die Europäische Raumfahrtbehörde Esa schätzt, dass das Kollisionsrisiko mit der ISS dadurch um zehn Prozent gestiegen ist. Vor zwei Jahren hat die amerikanische Nasa sogar einen ihrer Satelliten auf ein Ausweichmanöver schicken müssen. Sonst wäre er einem Trümmerteil einer amerikanischen Scout-G-1-Rakete zu nahe gekommen.
Millionen Trümmerteile in der Umlaufbahn
Mehr als 14.000 Schrottteile mit einer Größe von mehr als zehn Zentimetern schwirren derzeit im Orbit umher. 950 davon sind ausrangierte Satelliten verschiedener Länder, schätzt Jurij Saitsew vom Weltraumforschungsinstitut der Russischen Akademie der Wissenschaften. Die Zahl der Teilchen zwischen 0,1 Millimeter und einem Zentimeter Durchmesser beträgt laut Saitsew zwischen 70 und 80 Millionen.
Das Institut für Luft- und Raumfahrtsysteme der Technischen Universität Braunschweig schätzt sogar, dass derzeit insgesamt 150 Millionen vom Menschen geschaffene Objekte mit einem Durchmesser von mehr als einem Millimeter um die Erde kreisen. Selbst kleine Partikel können trotz ihrer geringen Masse enorme Schäden anrichten, da sie mit der zehn- bis zwanzigfachen Geschwindigkeit einer Gewehrkugel auf Hindernisse auftreffen können.
Während Experten bereits Alarm schlagen und sich Gedanken über eine kosmische Müllabfuhr machen, geht die Verschmutzung der Erdumlaufbahn weiter. Mit einer Abfangrakete haben die USA im Februar einen ausgedienten Spionagesatelliten zerstört. Auch die Chinesen haben im Januar einen alten Wettersatelliten abgeschossen. Deutsche Forscher schätzten anschließend, dass dabei rund 100 Trümmerteile entstanden sind, die mindestens die Ausmaße einer Apfelsine haben. Hinzu kämen 3700 kirsch- bis pfirsichgroße Brocken und etwa 150.000 Splitter im Millimeterbereich.
Fliegende Atomreaktoren im Friedhofsorbit
Wie sehr die Angst vor den Trümmerteilen selbst Wissenschaftler vereinnahmen kann, zeigen die wilden Theorien, die in Russland über den Abschuss des US-Spionagesatelliten kursieren. In einem Beitrag für die Nachrichtenagentur RIA Novosti behauptet Saitsew etwa, "einige Experten in Russland" vermuteten, der Satellit habe einen Atomreaktor besessen. Nach offizieller Darstellung der US-Regierung wurde der erst im Dezember 2006 gestartete Satellit vom Himmel geholt, weil er giftiges Hydrazin als Treibstoff an Bord hatte. Unabhängige Beobachter argwöhnten, der Abschuss sei vor allem eine politische und technische Demonstration gewesen. Die russische Regierung wiederum sprach von einem Test des US-Raketenabwehrsystems. Von Beweisen für einen Atomreaktor war in seriösen Quellen aber bisher nie die Rede.
Mit den Reaktoren im All kennen sich die Russen gleichwohl bestens aus. Bis 1989 schickte die Sowjetunion insgesamt 31 Satelliten des Typs "Rorsat" ins All, die ihre elektrische Energie aus Uran-Reaktoren bezogen. 29 der strahlenden Trabanten spuken noch heute um den Globus. Am Ende ihrer Mission wurden sie in den sogenannten Friedhofsorbit 900 bis 1000 Kilometer über der Erde abgeschoben. Dort sollen sie Jahrhunderte lang ihre Radioaktivität versiegen lassen, ehe sie wieder auf die Erde zurückstürzen.
Viele "Rorsat"-Bauteile sind aus extrem hitzebeständigen Materialien hergestellt. Sie würden möglicherweise auch den Wiedereintritt in die Atmosphäre überleben - und dann vielleicht ebenfalls vor einer sibirischen Holzhütte aufprallen.