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Russlands Raumfahrt Phönix aus dem Schrott

Vor 50 Jahren startete Jurij Gagarin als erster Mensch ins All. Sein Flug bescherte Russland die Vorherrschaft in der bemannten Raumfahrt. Mit Milliardeninvestitionen will Moskau diese Rolle verteidigen - trotz technischer Schwierigkeiten.

Am 10. April 1961 greift in der Sowjetunion ein 27 Jahre alter Familienvater zu Stift und Papier. Er beginnt einen Abschiedsbrief an seine Frau und seine Töchter. "Falls mir etwas zustößt, dann bitte ich Euch, kommt nicht um vor Leid." So bereitet sich Jurij Gagarin auf seinen Start vor. Zwei Tage später kreist er als erster Mensch in einem Raumschiff um die Erde - 108 Minuten fliegt die "Wostok" ("Osten").

Vor einem halben Jahrhundert markierte Gagarins Ausflug in die Erdumlaufbahn den Aufbruch des Menschen ins All. Die Mission mit dem Funkzeichen "Zeder" läutete auch eine Vorherrschaft Russlands in der bemannten Raumfahrt ein, die - mit zwischenzeitlichen Abschwächungen - bis heute Bestand hat.

"Wenn schon sein, dann erster sein", schrieb Gagarin in seinem Abschiedsbrief. Der Satz ist zum Motto einer ganzen Generation sowjetischer Weltraumpioniere geworden. Sie errichteten die rote Raketenvormacht aus den Trümmern ihres kriegszerstörten Landes. Vor allem zum Start des Weltraumprogramms stellten sie unter Leitung des legendären Sergej Koroljow ("Kompliziert bauen kann jeder") einen Rekord nach dem anderen auf: erster Satellit und erster Hund im All - die unglückselige Laika, die ihren Flug mit dem Leben bezahlte. Dann der erste Mann in der Umlaufbahn, die erste Frau, der erste Weltraumspaziergang. Der Westen war traumatisiert und konsterniert zugleich.

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Jurij Gagarin: Nationalheld und Vorbild

Foto: AFP

Gagarins früher Tod bei einem Flugzeugabsturz war ein Schock für die Sowjets. Zuvor war schon das Mastermind Koroljow bei einer vermeintlichen Routine-OP gestorben. Und dann ging auch noch das Rennen um den ersten Mann auf dem Mond verloren. Doch längst taugt das Erbe der roten Raketenpioniere wieder für die Vormachtstellung im Weltall. Verantwortlich ist neben der - weitgehend - robusten Technik der Russen das Desinteresse, vielleicht auch Unvermögen, der Amerikaner. Nach dem Ende der Space-Shuttle-Flotte der US-Weltraumbehörde Nasa werden die "Sojus"-Kapseln der Russen der einzige Astronautenzubringer für die Internationale Raumstation sein - auf Jahre hinaus.

Gerade ist die Technik der Raumtransporter mit einem digitalen Steuerungssystem aufgemöbelt worden. Sowohl die Rakete als auch die Kapsel gehen auf die absoluten Anfänge des sowjetischen Raumfahrtprogramms zurück, auf Entwicklungen aus den fünfziger und sechziger Jahren. Doch auch wenn Europäer und Japaner inzwischen hochmoderne Frachttransporter gebaut haben: Ohne die Russen wären Versorgung und Betrieb der ISS unmöglich.

Neuer Weltraumbahnhof wird im fernen Osten gebaut

Die Nasa lässt fieberhaft von Privatfirmen wie SpaceX Fracht-Zubringersysteme fürs All entwickeln. Für ihre Astronauten hat sie sich aber zuletzt bei den Russen Mitflugmöglichkeiten bis zum Jahr 2016 gesichert. Die Amerikaner zahlen dafür 753 Millionen Dollar. Das Geld ist hochwillkommen: Die russische Weltraumagentur Roskosmos verfügt gerade einmal über ein Fünftel des Budgets der Nasa. Dennoch gingen im Jahr 2009 immerhin 37 Prozent aller Raketenstarts auf das Konto der Russen.

Zuletzt hatte Russlands Raumfahrt freilich mit zahlreichen Problemen zu kämpfen: Im Oktober 2007 schrammte eine "Sojus"-Kapsel mit Steuerungsproblemen knapp an einem Unglück vorbei. Im vergangenen Dezember fehlte stundenlang der Funkkontakt vom Kontrollzentrum bei Moskau zur ISS und zu einer " Sojus"-Kapsel auf dem Weg dorthin. Im September hatte ein Raumtransporter wegen Technikproblemen erst mit Verspätung von der Raumstation abdocken können. Und im Juli verfehlte ein unbemannter "Progress"-Transporter den Außenposten im All gleich um mehrere Kilometer, weil TV-Signale den Anflug gestört hatten.

Dazu kamen Schwierigkeiten im Satellitenprogramm, wo unter anderem im Februar der Militärsatellit "GEO-IK 2" verloren ging und im vergangenen Dezember eine falsch betankte "Proton-M"-Rakete mit drei Navigationssatelliten an Bord abgestürzt war. Doch ungeachtet - oder gerade wegen - der Probleme treibt Premierminister Wladimir Putin die Erneuerung des russischen Raumfahrtsektors voran. Binnen eines Jahrzehnts hat er das Budget von Roskosmos verzwölffacht, es stieg von rund 300 Millionen Dollar 2002 auf 3,8 Milliarden Dollar 2011.

Russlands Führung strebt dabei nicht nur nach prestigeträchtigen Erfolgen im Weltall, der international erfolgreichen Raumfahrtindustrie ist auch am Boden eine Schlüsselrolle zugedacht. Swobodnij, ein winziges Städtchen, liegt weit in Russlands fernem Osten. Moskau ist von hier aus 6000 Kilometer entfernt, die Grenze zu China dagegen nur 80 Kilometer. Zwei Millionen Menschen hat die Region Fernost seit dem Ende der neunziger Jahre verloren, vor allem die Jungen ziehen weg, weil sie keine Perspektiven sehen. Deshalb will der Kreml hier in den kommenden neun Jahren einen nagelneuen Weltraumbahnhof errichten - Wostotschnij.

"Eine der größten und ehrgeizigsten Aufgaben des modernen Russland"

Das Projekt hat oberste Priorität: "Der Bau eines neuen Weltraumzentrums ist eine der größten und ehrgeizigsten Aufgaben des modernen Russland", versprach Putin im vergangenen Jahr. Ab diesem Sommer sollen "Sojus"-Raketen auch vom europäischen Weltraumbahnhof in Kourou starten, wegen der Äquatornähe mit massiven Vorteilen beim Treibstoffverbrauch. Doch in Wostotschnij liegt die Zukunft der russischen Raumfahrt. Schon 2015 sollen erste unbemannte Raketen von dort aus in den Orbit geschossen werden, ab 2018 dann bemannte Missionen.

Bis dahin allerdings ist es noch ein langer Weg. In der dünnbesiedelten Region fehlt es bislang an Infrastruktur und Menschen. Eine ganze Stadt will der Kreml deshalb in den kommenden Jahren für die bis zu 25.000 Mitarbeiter des neuen Kosmodroms aus dem Boden stampfen.

Rund 13,5 Milliarden Dollar wird das Projekt verschlingen, der Kreml aber hofft, damit zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Bisher nutzt Russland den kasachischen Weltraumbahnhof Baikonur, von wo aus schon Gagarin startete. Mittlerweile kostet das jedoch 115 Millionen Dollar Pacht - pro Jahr. Das neue Kosmodrom soll deswegen auf russischem Boden liegen, und zwar in der geostrategisch wichtigen Region direkt an der chinesischen Grenze. Investoren und Spezialisten sollen Moskau hier eine deutlich stärkere Präsenz sichern.

Von Wostotschnij aus könnten dann auch die neuen "Rus-M"-Trägerraketen starten, entwickelt von der Raketenschmiede Energija. Angetrieben werden soll die "Rus-M" von RD-180-Triebwerken. Die Motoren wurden bereits zu Sowjetzeiten konstruiert, in den neunziger Jahren leicht modernisiert und derzeit werden sie sogar in die USA exportiert, zu einem Stückpreis von zehn Millionen Dollar. Ebenfalls in Planung: ein neues Raumschiff für bemannte Missionen. Beide Komponenten könnten ab Ende des Jahrzehnts die "Sojus"-Arbeitstiere ablösen.

Mit Atomantrieb auf dem Weg zum Mars

Eine führende Rolle strebt Russland auch bei möglichen Mars-Missionen an. Derzeit simulieren sechs Probanden aus Russland, Europa und China in Moskau nahezu in Echtzeit einen Flug zum Roten Planeten und zurück, 520 Tage lang sind sie von der Außenwelt isoliert. Und sollte es tatsächlich eines Tages einen realen Marsflug geben, wollen russische Forscher dessen Antrieb konzipieren. Sie setzen darauf, die Motoren mit Atomenergie zu betreiben.

Im Bereich der unbemannten Raumfahrt will Russland verlorenen Boden gutmachen. Seit dem Absturz der "Mars-96"-Mission vor 15 Jahren hat das Land keine Sonde mehr zu fremden Planeten geschickt. Im November 2011 will Roskosmos nun einen Forschungsroboter zum Marsmond Phobos schießen. "Phobos Grunt" soll dort nicht nur landen, sondern sogar Bodenproben zurück zur Erde transportieren.

Es wäre die erste Sonde, die feste Gesteinsproben aus so großer Entfernung zurückbringt. Europas Raumfahrtagentur Esa will das kühne Unternehmen logistisch mit ihren Bodenstationen unterstützen. "Wenn den Russen die Phobos-Mission gelingt", schwärmt René Pischel, Leiter des Moskauer Esa-Büros, "wäre das ein phänomenales Husarenstück."

Vor weiteren Erfolgsmeldungen müssen die Russen allerdings nach wie vor die Tücken der Technik in den Griff bekommen. Sonst drohen peinliche Pannen, wie neulich mit dem Raumschiff "Sojus TMA 21". Weil es Probleme mit dem Kommunikationssystem der Kapsel gab, musste der Start der Kapsel mit zwei Russen und einem Amerikaner an Bord verschoben werden. Aus PR-Gesichtspunkten war das fatal, prangt doch ein großer Name außen am Raumfahrzeug: Gagarin.

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