Sonnenbeobachtung Finsternisforscher hoffen auf freie Sicht

Eine totale Sonnenfinsternis, wie sie heute in Südeuropa stattfindet, enthüllt viele Details über unseren Zentralstern. Trotz moderner Satelliten hat die Beobachtung von Finsternissen nach wie vor eine große wissenschaftliche Bedeutung.
Von Jay M. Pasachoff

Totale Sonnenfinsternisse gehören zu den spektakulärsten und beeindruckendsten Naturphänomenen. Im Durchschnitt treten sie alle achtzehn Monate entlang einem schmalen Streifen irgendwo auf der Erdkugel auf. Ihre Dauer beträgt - abhängig davon, wo in dem Streifen sich der Beobachter befindet - zwischen wenigen Bruchteilen einer Sekunde und siebeneinhalb Minuten.

Eine totale Verfinsterung unseres Zentralsterns liefert von der Erde aus den besten Blick auf die Sonnenkorona. Diese extrem heiße, äußere Atmosphäre unserer Sonne gleicht einem geisterhaften Netz aus Schwaden ("plumes") und Bändern ("streamers"), deren Formen durch Magnetkräfte bestimmt werden.

Aus der Erforschung der Korona lässt sich viel über die Funktionsweise der Sonne ableiten. Sämtliche Energie, die unser Zentralgestirn abstrahlt, muss die Korona durchlaufen. Warum ihre Temperatur mehrere Millionen Grad Celsius beträgt, ist bis heute ungeklärt. Derzeit hält man den Energietransport über magnetische Felder für die wahrscheinlichste Ursache.

Zudem können wir durch die Untersuchung der Korona viel über die Bedingungen im erdnahen Weltraum lernen. Ihre äußeren Schichten gehen nahtlos in den interplanetaren Raum über, und zwar in Form des Sonnenwinds, eines Stroms aus geladenen Teilchen, der das gesamte Sonnensystem durchzieht.

Auf ferne Gestirne schließen

Heftige Ausbrüche auf der Sonne, beispielsweise Sonnenfackeln und koronale Massenauswürfe, können Polarlichter auslösen, den Funkverkehr beeinträchtigen sowie Stromnetze und Erdsatelliten stören. Veränderungen der Sonnenstrahlung wirken sich auch auf das irdische Wetter und Klima aus.

Außerdem ist unsere Sonne ein recht durchschnittlicher gelber Zwergstern. Wenn wir sie untersuchen, erhalten wir Informationen, die sich auf andere Sterne übertragen lassen.

Und schließlich bietet die Sonne als physikalisches Labor Bedingungen, die wir in absehbarer Zukunft auf der Erde nicht verwirklichen können. Ein Beispiel ist die geringe Dichte der Korona: Sie würde in jedem irdischen Labor als traumhaftes Vakuum gelten.

Die Korona ist ein heißes Plasma, also ein ionisiertes, elektrisch leitendes Gas. Das Magnetfeld der Sonne formt es im Bereich des Sonnenäquators zu schönen, ausgedehnten Bändern und nahe den Sonnenpolen zu zarten Büscheln, die während einer Finsternis gut zu sehen sind. Mit dem Verhalten heißer Plasmen in Magnetfeldern befasst sich die Magnetohydrodynamik, eine verzwickte Disziplin.

Viele Vorgänge im Universum, die den Gesetzen der Magnetohydrodynamik unterliegen, lassen sich nur schwer mit Computern modellieren, geschweige denn im Labor nachstellen. Es besteht aber ein großes Interesse daran, sie zu verstehen - insbesondere bei Plasmaphysikern, die in der Fusionsforschung arbeiten. Das Wissen um magnetohydrodynamische Prozesse könnte eines Tages unsere irdischen Kraftwerke revolutionieren. Kurz: Die Sonnenkorona ist so wichtig, dass man jede Gelegenheit nutzen sollte, sie zu untersuchen.

Observatorien im All

Warum sind natürliche Finsternisse immer noch wichtig für die Wissenschaft? Mittlerweile verfügen die Forscher doch über moderne, weltraumgestützte Sonnenteleskope, etwa den japanischen Röntgensatelliten "Yokkoh", den europäisch-amerikanischen Satelliten "Soho" (Solar and Heliospheric Observatory) oder den Nasa-Satelliten "Trace" (Transition Region and Coronal Explorer). Sie überwachen unseren Zentralstern kontinuierlich, auch bei jenen Wellenlängen des elektromagnetischen Spektrums, die die Erdatmosphäre verschluckt - zum Beispiel kurzwelliges Ultraviolett- oder Röntgenlicht. Keiner dieser Satelliten benötigt eine Finsternis, um die Korona zu beobachten: Sie tun dies rund um die Uhr.

Das Beobachtungsinstrument "Lasco" (Large Angle and Spectrometric Coronograph) an Bord des Soho-Observatoriums zum Beispiel besteht aus drei separaten Kameras, von denen jede eine lichtundurchlässige Abdeckung besitzt, um eine künstliche Finsternis zu erzeugen (siehe Fotostrecke). Die C1-Kamera dient dazu, die Korona zwischen 1,1 und drei Sonnenradien abzubilden, C2 erfasst den Bereich zwischen rund 2,2 und sechs Sonnenradien, C3 dient der Untersuchung der Korona im Abstand von ungefähr 4,5 bis dreißig Sonnenradien. Bei der C1-Kamera bedeckt eine kreisförmige Blende in der Brennebene des Teleskops die gleißende Sonnenscheibe.

Die beiden anderen Kameras haben ähnliche Blenden vor ihren Hauptlinsen. Um störendes Streulicht zu vermeiden, muss Lasco auch die innere, helle Korona abdecken - und zwar bis zu einem Abstand von mindestens 1,1 Sonnenradien vom Mittelpunkt unseres Zentralsterns. Doch dieser Bereich ist äußerst wichtig, weil von ihm der Sonnenwind ausgeht.

In den Soho-Bildern in der Fotostrecke fällt innerhalb der Sonnenblende ein Kreis auf. Er entspricht etwa der Sonnenoberfläche und zeigt, wie viel von der Korona verdeckt wird. Genau dieser Bereich lässt sich von der Erde aus während einer Finsternis beobachten. Irdische Koronografen auf hohen Bergen können zwar näher an den Sonnenrand blicken als Sohos Kameras, aber immer noch nicht so nahe, wie es während einer natürlichen Finsternis möglich ist.

Weiter in Teil 2: Die großen Vorteile irdischer Beobachtungen

Zudem besitzt die C1-Kamera die relativ grobe Bildauflösung von zwölf Bogensekunden. Während einer natürlichen Finsternis dagegen sind von der Erde aus Details mit Größen zwischen ein und zwei Bogensekunden erkennbar. C2 und C3 haben sogar noch schlechtere Auflösungen als C1: 25 Bogensekunden beziehungsweise zwei Bogenminuten.

Daher ist die Beobachtung totaler Sonnenfinsternisse nach wie vor eine wichtige Ergänzung zu erd- und weltraumgestützten Erkundungen der Sonne, die mit künstlichen Verfinsterungen arbeiten.

Um einen wesentlichen Beitrag zur Sonnenforschung zu leisten, müssen moderne Finsternisexpeditionen allerdings überlegt vorgehen. Sie sollten bei ihren Beobachtungen eine höhere Auflösung (im Hinblick auf Ort, Zeit oder Wellenlänge) erzielen als die Satelliten im All.

Alternativ können sie auch in Wellenlängen- oder Raumbereichen beobachten, die Satelliten aus technischen Gründen nicht zu untersuchen vermögen.

Die Natur macht's möglich

Ein entscheidender Vorteil von natürlich auftretenden Finsternissen ist, dass sich ihre Beobachtung kurzfristig planen lässt. Satellitenmissionen erfordern hingegen viele Jahre oder gar Jahrzehnte an Vorbereitung. Zudem lassen sich für irdische Finsternisexpeditionen neu entwickelte Ausrüstungsgegenstände nutzen, die erst seit Kurzem erhältlich sind oder die sich nicht für die rauen Bedingungen im Weltraum eignen.

Um ein Beispiel zu nennen: Spiros Patsourakos vom Institut d'Astrophysique Spatiale (Orsay, Frankreich) beobachtete im Jahr 1998 eine natürliche Finsternis und kombinierte seine Messungen mit Soho-Daten. Aus beiden gemeinsam konnte er erstmals die Radialgeschwindigkeit einer bestimmten Komponente des Sonnenwinds bestimmen. Daraus leiteten Patsourakos und seine Kollegen ab, woher diese Komponente stammt. Dieses Ergebnis hätte allein mit Hilfe von künstlichen Finsternissen nicht erreicht werden können.

Jeffrey Kuhn (University of Hawaii), Alan Ridgeley (Rutherford Appleton Laboratory, England) und ihre Kollegen nutzen Finsternisse, um die Sonnenatmosphäre im Infrarot zu beobachten. Einige Spektrallinien in diesem Bereich des Spektrums hat man bei mehreren Mikrometer Wellenlänge gefunden oder vermutet sie dort. Anhand von Daten der Sonnenfinsternis von 1994 ordneten Kuhn und andere die koronalen Emissionslinien bei 1,25 und 1,43 Mikrometern dem Element Silizium zu, dem acht beziehungsweise neun seiner vierzehn Elektronen fehlen. Möglicherweise haben die Forscher auch achtfach ionisiertes Silizium bei 3,93 Mikrometer Wellenlänge nachgewiesen.

Sie beobachteten diese Emissionslinie während der Finsternis am 26. Februar 1998 über dem Pazifik an Bord eines C-130-Frachtflugzeugs. Wenn sich das Ergebnis bestätigen ließe, wäre diese Spektrallinie die bislang hellste der Korona im infraroten Teil des elektromagnetischen Spektrums. Damit würden sich die Chancen verbessern, das Magnetfeld der äußeren Sonnenatmosphäre direkt zu erforschen und zu vermessen.

Bei derselben Finsternis untersuchten Kuhn und seine Kollegen die Infrarotstrahlung von feinem Staub in der Umgebung unseres Zentralsterns. Sonnenlicht, das weiter draußen an interplanetarem Staub reflektiert wird, ist für das schwache, diffuse Zodiakallicht verantwortlich, das sich an einem dunklen Landhimmel nach der Abend- oder vor der Morgendämmerung beobachten lässt. Der dafür verantwortliche Staub liegt hauptsächlich in oder nahe der Ebene des Sonnensystems.

Er stammt von Kometen sowie von Zusammenstößen zwischen Kleinplaneten und Meteoroiden und bewegt sich auf Spiralbahnen langsam in Richtung Sonne. Die Forscher haben Zodiakalstaub sogar innerhalb der Korona nachgewiesen.

Bilder der Korona

Einige Astronomen vermuten, dass die aus dem äußeren Sonnensystem strömenden Körnchen sich in Ringen innerhalb der Korona sammeln könnten. Beobachtungen, die diese These stützen, gibt es bislang jedoch nicht.

Form und Struktur der Korona verändern sich von Finsternis zu Finsternis dramatisch, weil die Sonne einen elf Jahre währenden Aktivitätszyklus durchläuft.

Eine merkliche Veränderung bestand sogar zwischen der Finsternis vom 26. Februar 1998 und der vom 11. August 1999. Erstere zeigte eine für das Sonnenminimum typische längliche Korona, Letztere eine für das Sonnenmaximum typische, mehr oder weniger runde äußere Sonnenatmosphäre.

Es gibt auch einige Beobachtungen von zweifelhaftem Wert. Beispielsweise ist fraglich, ob die winzigen Größenänderungen der Sonne existieren, über die in den vergangenen Jahrhunderten immer wieder berichtet wurde. Als Grundlage für diese Messungen dienen Vergleiche zwischen heutigen Finsternisstreifen auf der Erdoberfläche und solchen zu Zeiten Edmond Halleys. Tatsächlich haben zahlreiche Forscher gezeigt, dass es keine messbaren Veränderungen im Sonnenradius gibt.

Zu den Vorteilen von Finsternisbeobachtungen gegenüber Satellitenbeobachtungen gehören eine hohe Flexibilität und ein geringer Preis. Selbst sperriges Gerät lässt sich für sehr viel weniger Geld in entlegene Gegenden der Erde schaffen als ins All.

Außerdem müssen die Instrumente nicht die strengen Stabilitätskriterien erfüllen, die ein Raketenstart erfordert. Schließlich lassen sich die Beobachtungsgeräte auf einer stabilen Unterlage (mit der Erde als Plattform) montieren und selbst noch in letzter Minute justieren.

Die Soho-Mission, ein gemeinsames Projekt der Raumfahrtorganisationen Esa und Nasa, kostet Hunderte Millionen Dollar. Eine gut ausgerüstete Finsternisexpedition lässt sich für weniger als ein Tausendstel dieser Summe organisieren. Selbst wenn sich manche Verdunkelungen wegen Bewölkung nicht beobachten lassen, sind Expeditionen eine sehr preisgünstige Möglichkeit, Sonnenforschung zu betreiben.

Daher ist die Zeit der Finsternisforschung lange nicht vorüber! Erfolge in den Satellitenbeobachtungen sollten uns nicht davon abhalten, Sonnenfinsternisse zu erforschen, denn wir können dabei wichtige Erkenntnisse gewinnen. Am heutigen 29. März bietet sich die nächste gute Chance.

Jay M. Pasachoff arbeitet als Professor für Astronomie am Williams College in Williamstown, Massachusetts, und hat mehr als dreißig Sonnenfinsternisse beobachtet. Außerdem ist er Vorsitzender der Arbeitsgruppe "Finsternisse" der Internationalen Astronomischen Union. Pasachoff schrieb zusammen mit Leon Golub das Buch "Nearest Star: The Exciting Science of the Sun".

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