Satellitenbild der Woche Genf von oben – Von der Gemüsesuppe zum Gottesteilchen

Foto von Genf im April 2018
Foto: ISS055-E-10916 / NASA Earth ObservatoryVielleicht hatte die alte Dame Schlafprobleme, vielleicht trieb sie auch der Lärm in dieser turbulenten Nacht aus dem Bett. So ganz genau weiß man das nicht. Jedenfalls war Catherine Royaume wach, als die Soldaten kamen.
Vom 11. auf dem 12. Dezember 1602 versuchte ein Söldnerheer im Auftrag des Herzogs von Savoyen die Stadt Genf einzunehmen. Zwischen 2000 und 3000 Mann hatte der katholische Herrscher Karl Emanuel losgeschickt, um sich den selbstverwalteten, protestantischen – und nicht eben armen – Stadtstaat unter den Nagel zu reißen. Und rund ein Zehntel der Angreifer hatte im Schutz der Nacht bereits mit Leitern die Stadtmauern überwunden – als die Genfer sich doch noch wehrten. Und zwar mit Macht.
Sie lesen einen ggf. gekürzten und leicht bearbeiteten Auszug aus dem SPIEGEL-Buch »Von oben – Die schönsten Geschichten, die Satellitenbilder über die Erde und uns Menschen erzählen« , das Jörg Römer und Christoph Seidler herausgegeben haben. Es enthält mehr als 50 opulent gestaltete Doppelseiten mit Fotos aus dem All: die besten Beiträge der SPIEGEL.de-Kolumne »Das Satellitenbild der Woche« mit Texten der SPIEGEL-Redakteurinnen Julia Merlot, Susanne Götze und Julia Köppe sowie zahlreiche, exklusiv für das Buch geschriebene Texte wie diese hier:
Ein mutiger Nachtwächter ließ am strategisch wichtigsten Stadttor das Fallgatter herunter. In den Straßen der Altstadt wurde Mann gegen Mann gekämpft. Wobei diese Formulierung nicht ganz zutrifft, weil es eben auch mutige Frauen wie Catherine Royaume gab. Aus einem Fenster ihres Hauses am Stadttor La Monnaie, so geht die Geschichte, soll die etwa 60-jährige Dame einen gusseisernen Topf voller heißer Suppe auf einen Savoyarden fallen gelassen haben. Der habe die Attacke nicht überlebt.
Mere Royaume, unter diesem Namen wurde sie bekannt, steht damit sinnbildlich für den Mut der Genfer, der ihnen in einem entscheidenden Moment der Historie ihre Unabhängigkeit bewahrt hat. Gut, zu Napoleons Zeiten gehörte die Stadt einmal für rund 15 Jahre zu Frankreich – aber das ist eine andere Geschichte.
Von oben
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20.03.2023 10.56 Uhr
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Dieses Bild vom April 2018 zeigt Genf und sein Umland aus gut 400 Kilometern Höhe. Aufgenommen wurde es, wenn man so will, nicht von sondern aus einem Satelliten – und zwar einem ganz besonderen: Ein Astronaut auf der Internationalen Raumstation hat das Foto gemacht, mit einer Nikon D5 Digitalkamera und einem 1150-Millimeter-Objektiv. Der Name des Fotografen wird traditionell von der US-Weltraumbehörde Nasa nicht genannt. Nur, dass er zum Team der Expedition 55 gehört, ist bekannt.
Flohmärkte und Zirkus
Im oberen Bereich der rechten Seite ist der Genfer See gut erkennbar. Sichtbar ist auch die Rhône, als Abfluss aus dem See, und die südlich der Innenstadt einmündende Arve. Die Altstadt, wo vor rund 420 Jahren die Einheimischen gegen die Angreifer aus Savoyen kämpften, liegt zwischen dem Ende des Sees und einem kleinen orangen Rhombus südlich der Rhône: Das ist die 78.000 Quadratmeter große Plaine de Plainpalais, eine Freifläche inmitten der Stadt, auf der regelmäßig Flohmärkte stattfinden und Zirkusse gastieren.

Die Plaine de Plainpalais, hier auf einem Luftbild
Foto: DPAGenf gehört seit 1815 zur Schweiz. Die Neutralität machte den Standort attraktiv, über die Jahre hat sich hier auch deswegen eine Vielzahl internationaler Organisationen angesiedelt. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz gehört dazu, der Völkerbund und später die Vereinten Nationen, die Internationale Arbeitsorganisation, die Weltgesundheitsorganisation, die Internationale Organisation für Migration, die Welthandelsorganisation – und das sind längst noch nicht alle.
Die Gebäude der Organisationen liegen, ebenso wie die zahllosen diplomatischen Vertretungen, zum größten Teil zwischen Seeufer und dem markant auf der linken Seite erkennbaren Flughafen mit seiner 3900 Meter langen Landebahn. In den großen, direkt an den Airport angrenzenden Messehallen findet jedes Jahr der weltberühmte Autosalon statt.
Banken und sündhaft teure Uhren, auch dafür ist Genf bekannt. Und im Zollfreilager am Rand der Stadt sollen so viele Kunstschätze eingelagert sein, dass es sich um das größte Museum der Welt handeln würde – wenn man die Preziosen denn jemals ansehen dürfte. Aber auch für die Wissenschaft ist die Stadt von herausragender Bedeutung, schließlich ist hier die Europäische Organisation für Kernforschung zu Hause. Besser bekannt ist das größte teilchenphysikalische Forschungszentrum der Welt unter der Abkürzung seines französischen Namens: Cern. Hier erfand der britische Physiker und Informatiker Tim Berners-Lee im Jahr 1989 das World Wide Web, eigentlich um Forschungsdaten besser zu organisieren.
Megamaschine soll bis 2035 laufen
Genau genommen liegen die Labore und Werkstätten des Cern übrigens teils auf französischem und teils auf schweizerischem Gebiet. Genauso verhält es sich auch mit den Tunneln, in denen die Experimente aufgebaut sind. Der größte von ihnen, der 2008 in Betrieb genommene Large Hadron Collider, kurz LHC, ist ganze 26,7 Kilometer lang. Am LHC gelang im Sommer 2012 der Nachweis des letzten noch nicht endgültig bestätigten Teilchens im Standardmodell der Teilchenphysik.
Für die Entdeckung des Higgs-Bosons, oft auch etwas unwissenschaftlich als »Gottesteilchen« bezeichnet, gab es bereits im Jahr darauf den Nobelpreis – allerdings nicht für die Forscher am Cern. Die Ehrung ging stattdessen an die Physiker François Englert und Peter Higgs, die das Partikel bereits 1964 vorhergesagt hatten.
Insgeheim haben sich viele Forscher aber sogar noch etwas mehr vom LHC erhofft. Die Megamaschine, in der Kollisionen von Protonen oder Blei-Kernen bei extrem hohen Energien untersucht werden, sollte Hinweise auf eine Physik jenseits von allem Bekannten liefern. Doch bisher haben die Erkenntnisse das Standardmodell der Teilchenphysik vor allem in nicht gekannter Detailtiefe bestätigt. Immerhin soll der LHC, mit Umbaupausen, noch bis 2035 laufen. Vielleicht klappt es ja bis dahin.
Ein schwer verständliches Lied mit 68 Strophen
Zum Schluss noch ein paar Worte zu Mere Royaume. Die Genfer erinnern sich bis heute an sie. Zur Fete de l’Escalade gibt es zum Jahrestag der fehlgeschlagenen Erstürmung der Stadt unter anderem einen Fackelzug und einen Stadtlauf. Gesungen wird außerdem das Lied »Cé qu’e lainô« von 1603, das in altem Genfer Dialekt von den Ereignissen berichtet. Von den 68 Strophen werden – der Einfachheit halber – normalerweise nur vier zu Gehör gebracht.
Wichtigster Bestandteil der Feier sind Süßigkeiten. Im Dezember werden in den Läden der Stadt Schokoladentöpfe verschiedenster Größen- und Preisklassen verkauft, die mit Marzipangemüse gefüllt sind. Diese Marmites de l’Escalade werden dann nicht einfach nur verspeist, erst müssen sie vom Jüngsten und dem Ältesten aller Anwesenden gemeinsam zertrümmert werden. Dabei wird der Satz gesagt: »Et qu’ainsi périssent les ennemis de la république!«, übersetzt: »Und so sollen die Feinde der Republik umkommen!«