Weltraum-Träume Forscher grübeln über Sternenreisen
Die Reise ohne Wiederkehr gleicht der Orkanfahrt eines gigantischen Rahseglers: 1000 Kilometer misst das hauchdünne Lichtsegel des Raumgleiters. Sein Rumpf wiegt 3000 Tonnen.
Ein Laser mit einer Leistung von 43.000 Terawatt, dessen Licht durch eine Art Linse von der Größe der Türkei gebündelt wird, beschleunigt das Sternenschiff in nur zwei Jahren auf halbe Lichtgeschwindigkeit (150.000 Kilometer pro Sekunde). Fortan gleitet es ohne weiteren Schub durchs All. Nach nur 20 Jahren erreichen die Sternenbummler in seinem Innern den Fixstern Epsilon Eridani.
Willkommen im Reich der blühenden Phantasie und der ultimativen technischen Herausforderung. Zwar ist selbst die Mars-Mission der Nasa noch immer Zukunftsmusik doch warum nicht schon mal darüber nachdenken, was in einigen Jahrhunderten wahr werden könnte?
Auf der diesjährigen Forscherkonferenz der amerikanischen "Association for the Advancement of Science" in Boston ließen die Experten ihren Weltraum-Träumen freien Lauf. Physiker, Anthropologen und Linguisten diskutierten die Voraussetzungen, unter denen Menschen künftig die Reise zu den Sternen antreten könnten. Wichtigstes Ergebnis: Theoretisch steht dem ultimativen Weltraumausflug schon heute nichts mehr im Weg. "Sternenreisen sind mit den Gesetzen der Physik vereinbar", sagt Nasa-Physiker Geoffrey Landis. Und Charles Sheffield, Physiker der Earth Satellite Corporation in Rockville, Maryland, assistiert: "Wir müssen keine Übermenschen werden, um zu den Sternen zu reisen alles, was wir brauchen, ist Geduld."
Sheffield wie Landis sind im Nebenjob Science-Fiction-Autoren. Warp-Antrieb, Teleportation und intergalaktische Abkürzungen, so genannte Wurmlöcher, gehören zum Handwerkszeug der Zunft, um in den Weiten des Alls nicht Langeweile aufkommen zu lassen.
Doch während derlei Reise-Hilfsmittel in nächster Zeit kaum zu erwarten sind, diskutierten die Sternen-Fans in Boston nun jene Raumfahrttechniken, die möglicherweise tatsächlich realisiert werden könnten. Das Ziel der Forscher: so genannte "Multi-Generations-Raumschiffe", die Erdbewohner zwar nicht in einem einzigen Menschenleben, wohl aber in einer überschaubaren Anzahl von Generationen zu fernen Sternen transportieren sollen.
"Um zu den ersten lohnenden Zielen zu gelangen, gehen wir derzeit von einer etwa 200-jährigen Reise aus, auf der sechs bis acht Menschengenerationen geboren werden", sagt der Anthropologe John Moore von der University of Florida. Die Voraussetzungen: eine Crew, die bereit ist, das Erdendasein aufzugeben und sich fürderhin im All fortzupflanzen; dazu ein Raumschiff, das in etwa die tausendfache Geschwindigkeit derzeitiger Weltraum-Vehikel erreicht. Mit heutigen Voyager-Raumsonden etwa würde es noch etwa 80.000 Jahre dauern, um auch nur den relativ erdnahen, rund 4,4 Lichtjahre entfernten Nachbarstern Alpha Centauri zu erreichen.
Doch die Forscher haben schon etliche Ideen für neue futuristische Antriebstechniken ausgebrütet. Auf bereits drei Prozent Lichtgeschwindigkeit beispielsweise könnte es nach ihren Berechnungen das so genannte Orion-Raketen-Raumschiff bringen, eine der abstrusesten, aber durchaus ernst gemeinten Studien der Sternen-Fans.
Am hinteren Ende mit einer riesigen Antriebsplatte versehen, soll das Sternenschiff in nur zehn Tagen mit Hilfe von Hunderttausenden Atombomben auf 9000 Kilometer pro Sekunde beschleunigt werden. Aus einer kleinen Öffnung am Ende des Gefährts, so der irrwitzige Plan, sollen die Bomben im Drei-Sekunden-Takt herauspurzeln, gezündet werden (Landis: "Boom! Boom! Boom!") und den Flugkörper durch ihre Explosion vorwärts treiben. Der Nachteil der Brachialtechnik: Allein der Antrieb würde 300.000 Tonnen wiegen.
Die Visionäre der Sternenreise favorisieren daher längst andere Konzepte. "Wir müssen den Antrieb zu Hause lassen", erläutert Landis. Die Kraft der Sonne, gebündelt zu einem extrem energiereichen Laserstrahl, soll künftige Raumschiffe antreiben. Bestückt mit gewaltigen Lichtsegeln, die dem Laser die nötige Angriffsfläche bieten, könnten solche Sternendampfer schon bei nur 65 Gigawatt Laserleistung in 40 Jahren Alpha Centauri erreichen, glaubt der Physiker: "Das Space Shuttle entwickelt beim Start 25 Gigawatt Leistung wir wissen also bereits, wie man mit solchen Größenordnungen umgeht."
Partikelkanonen auf erdfernen Asteroiden, Antimaterie-Raketen oder Fusionsreaktoren sind nur einige weitere Ideen der reiselustigen Naturforscher. So groß ist inzwischen ihre Begeisterung, dass sie bereits zur Detailplanung der Fernreise übergegangen sind. Dringliche Fragen: Wie muss die Crew für die erste Reise zu den Sternen zusammengesetzt sein? Welche Sprache werden die Weltraumfahrer sprechen? Welche Kultur werden sie entwickeln? Und schließlich: Warum sollte überhaupt jemand zu einer solchen Reise aufbrechen?
Heutige Missionen ins All sind nichts für zarte Seelen. Zusammengepfercht wie Legehennen müssen die Astronauten während des Flugs ausharren nur um sich dann in engen Labors einer Orbitalstation auf die Nerven gehen zu können. Auch für künftige Marsmissionen wird derzeit eine Crew von sieben Erwachsenen diskutiert, die neun Monate lang quasi Schulter an Schulter dasitzen müssten, bis sie den Roten Planeten erreichen.
Bei Langzeitflügen würde eine solche Enge unweigerlich zu Gewaltausbrüchen führen. Die Forscher raten daher, künftigen Weltraumfahrern viel Platz zur Verfügung zu stellen und die Reisen zudem nicht straff militärisch zu organisieren, sondern einem seit Jahrtausenden bewährten Modell menschlichen Zusammenlebens zu folgen.
"Es ist viel wahrscheinlicher, dass wir auf einer solchen Reise nicht verrückt werden, wenn wir Crews ins All schicken, die in Familien organisiert sind", sagt der Anthropologe Moore, der in irdischen Gefilden indianische Kleingruppen erforscht. Aus mindestens 80 Personen, so hat Moore errechnet, müsste die Besatzung eines Raumschiffes bestehen, um auch über mehrere Generationen hinweg stabil zu bleiben. Die Reisenden müssten heiraten und Kinder bekommen. Erst ihre Enkel oder Urenkel könnten eines fernen Tages eine Kolonie auf einem extrasolaren Planeten gründen oder zur Erde zurückkehren.
Damit die genetische Vielfalt der Weltraumgemeinde über die lange Zeit erhalten bleibt, rät der Forscher zudem dazu, eingefrorene Samenzellen mit an Bord zu nehmen und die Raumcrew international zu besetzen.
Als ideale Weltallsprache gilt den Sternen-Fans dabei das Englische. "Es wäre nicht schwierig, zusätzlich zu Amerikanern und Europäern genetisch unterschiedliche Englisch-Sprecher in Ländern wie Ghana oder Indien zu finden", sagt die Linguistin Sarah Thomason von der University of Michigan. Nach einigen Generationen werde sich eine Art "Weltraum-Englisch" herausbilden sobald nämlich irdische Dinge an Bord des Sternenschiffes an Bedeutung verlieren. "Worte wie Hochhaus, Auto und Zug werden für die Weltraumfahrer nutzlos sein", erläutert Thomason. "Dafür werden sie ganz neue Worte für Dinge erfinden, die wir uns noch gar nicht vorstellen können."
"Sternenreisen dürfen nicht etwas sein, was die Crew ertragen muss", bilanziert Moore. "Sie müssen angenehm und interessant sein und gleichzeitig voller Abenteuer." Dann sei auch die Rekrutierung für eine solche Reise kein Problem mehr. "Neugier ist eine ausreichende Motivation", glaubt der Anthropologe: "Diese Menschen werden das Privileg haben, eine neue Kultur mit eigenen Werten, Zeremonien und Verhaltensweisen zu entwickeln ich wäre der Erste, der sich für so eine Mission bewerben würde."
"Fliegende Welten" erträumt sich Moore, künstliche Biosphären und neue, "ideale" Gesellschaftsformen. Allenfalls "als Touristen" würden die Reisenden zurückkehren wollen, um die "alte Zivilisation" zu besuchen.
Ob den Raumfahrern die Rückkehr überhaupt gelänge, steht indes in den Sternen. "Reisen ins Weltall sind nicht einfach", räumt der Physiker Landis ein. "Ein solches Raumschiff auf den Weg zu bringen, ist schon kompliziert genug", so der Forscher: "Wie wir das Gefährt nach mehreren Jahrhunderten am Ziel abbremsen geschweige denn zurück zur Erde schicken können, macht uns jedoch noch weitaus größere Sorgen."
PHILIP BETHGE