Wettlauf ins All Wie die "Sputnik"-Notlösung die Welt veränderte

Nur piepsen konnte der "Sputnik", sonst nichts. Trotzdem versetzte der erste Satellit der Sowjets Washington in einen Schockzustand. Mit dem Start hatte in den USA niemand gerechnet - und in Moskau eigentlich auch nicht.
Von Simone Schlindwein

"Sputnik" umkreiste am Abend des 4. Oktober 1957 schon zum zweiten Mal die Erde, als sich mehrere Dutzend Geowissenschaftler aus verschiedenen Ländern in der sowjetischen Botschaft in Washington zu einer Party trafen. Dass der Satellit, den sie gemeinsam zu Forschungszwecken planten, schon um den Globus kreiste - davon wussten sie nichts.

An jenem Freitagabend feierten die Forscher das Ende ihrer Konferenz anlässlich des Internationalen Geophysikalischen Jahres (IGJ). Vom Juli 1957 bis Dezember 1958, als die Sonne verstärkt Strahlung zur Erde schickte, wollten die Wissenschaftler die Auswirkungen auf das Erdmagnetfeld außerhalb der Atmosphäre untersuchen. Mit einem Satelliten.

Das gemeinsame Forschungsprojekt war außergewöhnlich in dieser Hochphase des Kalten Krieges, ebenso wie die Feierlichkeiten in der sowjetischen Botschaft - bastelten doch auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs Nuklearforscher an der Bombe und interkontinentalen Trägerraketen.

Die US-Regierung hatte im Jahr 1955 verkündet, zum Geophysikalischen Jahr einen Satelliten starten zu wollen. Vier Tage später zog die Sowjetunion nach, konkrete Pläne veröffentlichte sie nicht. Auf der Botschaftsfete, so hofften die US-Forscher, würden sie endlich mehr über das sowjetische Satellitenprojekt erfahren. Dass es dann so viel sein würde, hätten sie wohl nicht erwartet.

Chance für Koroljow: Zwei Raketen waren übrig

Die Nachricht vom Start des sowjetischen "Sputniks" überraschte die Amerikaner, die Wissenschaftler aus der Sowjetunion nahmen verlegen die Glückwünsche entgegen. Ihr Vertreter Anatolij Blagonrawow musste gestehen: Der knapp 84 Kilo schwere Aluminiumball mit einem Durchmesser von 58 Zentimetern hatte bis auf ein Thermometer und einen Kurzwellensender kein wissenschaftliches Instrument an Bord.

Der Satellit piepste, zu mehr war er nicht imstande. Doch die politische Wirkung des Winzlings und seiner Signale, die jeder Amateurfunker auf dem Globus empfangen konnte, war gewaltig.

Selbst die Sowjets hatten sich eine solche Wirkung nicht träumen lassen, denn ihr "Sputnik" war eine eiligst zusammengeschraubte Verlegenheitslösung. Bei Versuchen mit der Interkontinentalrakete R-7 war die Attrappe des Atomsprengkopfs in der Atmosphäre verglüht, anstatt ins Ziel zu treffen - er musste komplett überarbeitet werden. Zwei Raketen waren noch intakt, sollten getestet werden, während die Techniker mit dem Sprengkopf beschäftigt waren. Der Spontan-Entschluss der Sowjets: Ehe die Raketen leer fliegen, könnte man auch auf die Schnelle einen Satelliten mit an Bord nehmen.

Doch der ursprünglich geplante künstliche Himmelskörper, der das Erdmagnetfeld vermessen sollte, existierte noch nicht. "Wie immer hat die Akademie der Wissenschaften ihre Geräte nicht termingerecht fertigstellen können", erinnert sich Boris Tschertok, 96, Ingenieur des Lenksystems der R-7. In diesem Moment habe Chefkonstrukteur Sergej Koroljow vorgeschlagen, schnell einen einfachen "Sputnik" ohne Gerätschaften zu bauen. "Sonst hätten wir warten müssen, bis das fliegende Satelliten-Labor so weit ist, und höchstwahrscheinlich wären es dann die Amerikaner gewesen, die als erste im Weltraum gewesen wären", sagt Tschertok.

Wie die USA den Wettlauf ins All hätten gewinnen können - und warum am Ende die Russen die Ersten waren

Dieselbe Entscheidung hätte auch in den Vereinigten Staaten fallen können – immerhin waren die US-Ingenieure im Sommer 1957 bei ihren Raketentests den Russen weit voraus. Sie hätten nur eine zusätzliche Oberstufe auf ihre Atomrakete aufsetzen und einen Satelliten damit in All schießen müssen, so wie es Koroljow vorgeschlagen hatte.

Doch im Unterschied zu den Sowjets leisteten sich die Amerikaner zwei getrennte Raketenprojekte: ein streng geheimes Militärprojekt unter der Leitung des deutschen Wernher von Braun und das "Vanguard"-Projekt für die Wissenschaft. Anders als bei der militärischen "Atlas"-Rakete hatten die US-Ingenieure Probleme mit der Trägerrakete "Vanguard", die den ersten Satelliten ins All hieven sollte. Sämtliche Startversuche bis März 1958 misslangen.

Auf dem geheimen Testgelände in Kasachstan, das noch nicht ganz fertiggestellt war, erlebten die sowjetischen Raketeningenieure im Sommer 1957 ähnliche Fehlschläge. Auch ihre ursprünglich für militärische Zwecke konzipierte Rakete R-7 wollte zunächst nicht abheben. Sieben der acht erfolgten Flugversuche vor dem "Sputnik"-Start waren schiefgegangen. Nur ein einziges Mal, im August, war die R-7 über die sibirische Taiga hinweg bis zu ihrem Zielpunkt über der Pazifikhalbinsel Kamtschatka geflogen.

Hund fliegt in Kugel ins All

Dass die Rakete beim nächsten Mal wieder abheben würde, konnten die Ingenieure nicht garantieren. So blieb "Sputnik" ein Geheimprojekt, bis der Satellit auf einer elliptischen Flugbahn die Erde umkreiste. Dass der Orbiter in den USA einen regelrechten Schock auslösen würde, ahnten weder Chruschtschow noch Koroljow. Die "New York Times" druckte die "Sputnik"-Meldung auf ihre Titelseite.

Als Chruschtschow eine vollständige Übersicht über die US-Reaktion auf den Tisch bekam, habe er Koroljow zu sich kommen lassen, erzählt Tschertok. "Eigentlich brauchen wir gar keine Wasserstoffbombe mehr. Durch den Start eines harmlosen Satelliten gewinnen wir mehr, als ein solcher Test hätte bringen können", habe der Generalsekretär zu Koroljow gesagt.

Daher sollte kurz vor dem Jahrestag der Oktoberrevolution ein zweiter Satellit in den Weltraum geschossen werden. "Es hatte aber keinen Sinn, noch einmal eine leere Kugel starten zu lassen", sagt Tschertok. So entstand die Idee, einen Hund an Bord des Satelliten ins All zu schießen. "Wir haben nicht einmal eine technische Zeichnung angefertigt", sagt der Ingenieur mit einem Lachen. Unmittelbar in den Werkhallen habe Koroljow die Ingenieure angewiesen, was wo zu montieren war.

Werk eines eigensinnigen Enthusiasten

Am 3. November 1957 startete die Hündin Laika in den Weltraum - und wieder feierten die Sowjets einen PR-Coup. Dass Laika nicht, wie von den Sowjets behauptet, eine Woche lang im Orbit überlebte, wurde erst später bekannt. Schon kurz nach dem Start war die Hündin an einem Hitzschlag verendet.

Bis heute sind sich Raketeningenieure und Raumfahrthistoriker in Russland einig, dass es dem eigensinnigen Enthusiasten Koroljow zu verdanken ist, dass sie vor den USA den Weltraum erobert haben. "Der Tod von Koroljow 1966 war ein harter Schlag für uns", sagt Tschertok. Sein Stellvertreter Wassilij Mischin, der an seine Stelle trat, sei ein sehr begabter Ingenieur gewesen. "Aber ihm fehlte das Managertalent von Koroljow. Und er hatte nicht annähernd einen solchen Einfluss bei den politischen Entscheidungsträgern."

Kalter Krieg im Orbit: Lesen Sie in der Titelgeschichte des aktuellen SPIEGEL, wie mit dem "Sputnik"-Start der Aufbruch ins All begann.

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