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INTERNET Wer mit wem?

Millionen organisieren ihre Freundeskreise über Online-Netzwerke wie StudiVZ oder Lokalisten - auch der amerikanische Branchenriese Facebook will in Deutschland Fuß fassen. Die Verwaltung menschlicher Freundschaft gelangt im Internet zu ungeahnter Raffinesse.
aus DER SPIEGEL 52/2007

Ich kenne niemanden, der nicht dabei ist«, sagt Benjamin Roth, 25. »Hundertmal am Tag gehe ich da rein, ganz schlimm«, sagt Carolin Thiele, 25. »Fast hätte ich hier eine Freundin gefunden«, sagt Christian Vogt, 27; demnächst trifft er sich mit der nächsten Kandidatin.

Drei von Millionen, die einer neuen Attraktion im Internet verfallen sind: Soziale Netzwerke melden enormen Zulauf. Sie nennen sich StudiVZ, Lokalisten oder Facebook. Ein jeder kann dort ein Verzeichnis seiner Freunde anlegen und fortan Nachrichten mit ihnen austauschen.

Früher genügte dafür ein Adressbuch. Woher dann die Aufregung? Lokalisten.de hat 1,6 Millionen Mitglieder versammelt. StudiVZ.de, gedacht für Studenten, bringt es bereits auf mehr als vier Millionen; die Adresse gehört zu den meistbesuchten im deutschen Internet.

Wer der Verlockung noch widersteht, so scheint es, ist entweder ein Sonderling oder alt.

Die Jungen haben vor allem ein Motiv: Die anderen sind auch schon da. Ganze Cliquen wechseln geschlossen zu einer Freundeszentrale, laden Fotos vom Skiurlaub und von der letzten Party hoch und sehen sich um, wer sonst noch da ist. Und tun dann, was sie auch im echten Leben tun: schäkern, flirten, diskutieren.

Sollte mal Bedarf nach neuen Bekanntschaften aufkommen, stehen mächtige Suchmaschinen bereit. Sie filtern das riesige Sortiment der Mitglieder je nach Wunsch: alle Leipziger, die gern im »Präzisionswerk Espenhain« tanzen gehen? Kein Problem. Alle weiblichen Singles unter 25 aus München, die gern pokern, aber noch nicht allzu gut, und sich Mitspieler wünschen? Bei den Lokalisten gibt es davon genau 52.

Der Computer durchwühlt dafür die Selbstbeschreibungen der Mitglieder; so gut wie alle haben umfangreiche Fragebögen ausgefüllt, um ihr »Profil« zu erstellen. Mehr oder minder freizügig offenbaren sie ihre Interessen, die Lieblingsfilme, den Lebenslauf. Wer auf Kontakte aus ist, findet da schon im Vorhinein vieles, was die Anbahnung erleichtert.

Auch für andere Bedürfnisse ist gesorgt: Wer sein Auto verkaufen will, eine Mitfahrgelegenheit sucht oder Konzertkarten, steuert den »Marktplatz« an. Wer debattieren will, gründet einen Diskussionszirkel, sei es gegen Tierversuche oder zum Thema »Ich habe keine Lösung, aber ich bewundere das Problem« (91 869 Mitglieder bei StudiVZ). Christian Vogt, gelernter Mediengestalter, liebt es, in seiner Stammkneipengruppe mit den Bedienungen über die Speisekarte fürs anstehende Wochenende zu beraten.

Das große Vorbild ist der US-Dienst Facebook, der sich jetzt anschickt, sein Angebot um eine deutsche Version zu erweitern. Firmenchef Mark Zuckerberg, 23, gründete Facebook vor knapp vier Jahren in seinem Wohnheim an der Harvard-Universität. Erst wurden nur Mitglieder aus amerikanischen Universitäten akzeptiert. Dann kamen Unternehmen hinzu. Seit gut einem Jahr ist Facebook offen für alle Welt. Flugs stieg die Zahl der Mitglieder auf 58 Millionen.

Menschen gesetzten Alters tun sich anfangs schwer, den Zauber der neuen Online-Zentralen zu begreifen. Die Ansammlung all der »Profile« sieht aus wie eine bebilderte Volkszählungskartei. Aber spätestens dem zweiten Blick erschließt sich, worum es hier geht: Ein jedes Profil enthält ein Fotoregister sämtlicher Freunde, die ebenfalls dem jeweiligen Dienst angehören. Nicht selten umfasst die Sammlung weit mehr als hundert Exemplare, die Bildchen schön aufgereiht wie in einem Briefmarkenalbum.

Mit der Freundschaft zwischen zwei Mitgliedern fängt alles an. Einer bietet sie an, der andere muss sie bestätigen. Dann werden die beiden zusammengeschaltet; sie erhalten wechselweise Zugang zu privaten Bereichen ihres Profils, auf Fotoalben etwa oder die aktuelle Adresse.

Ein Klick auf einen Freund im Verzeichnis bringt dann dessen Profil zum Vorschein, und von dort geht es nach Belieben weiter zu Freundesfreunden. Dem Neugierigen liegt ein Reich von Beziehungen

offen - viel Stoff für die älteste Frage der Welt: Wer mit wem?

Besonders die Generation unter zwanzig hat ein Gespür für die neuen Möglichkeiten. Wenn Jugendliche einander Botschaften schicken, nutzen sie statt des Privatkanals gern den öffentlichen Anschlagbereich auf der Profilseite des Adressaten. Alles Geturtel, Geschmolle und Geschäker ist dann vor dem gesamten Bekanntenkreis dokumentiert. Jedermann kann nachlesen, wer mit wem besonders innig tut - ein Beziehungstheater ganz neuen Typs.

Seit eh und je hat jedes Lebensalter seine Technik, Status und Prestige im Rudel auszuhandeln. Die Kleinsten genießen es, Einladungslisten für den Kindergeburtstag zu erstellen: Wer darf drauf, wer nicht? Später, wenn sie schon ein Mobiltelefon haben, lautet die Frage: Wem gebührt die Ehre einer eigenen Kurzwahltaste? Im Internet gelangt die Freundschaftsverwaltung nun zu ungeahnter Raffinesse.

Sämtliche Aktivitäten im Facebook-Universum zum Beispiel werden automatisch dem ganzen Freundeskreis mitgeteilt. Nichts bleibt mehr unregistriert, und irgendwas ist immer: Paul hat Fotos vom Luftgitarrenturnier hinzugefügt, Trine hat sieben neue Freunde auf einmal eingetragen, in Emmas Profil steht, dass sie wieder solo ist. Der stete Strom solcher Botschaften führt dazu, dass die Mitglieder sich immer wieder einwählen, um nichts zu versäumen.

Der Freundeskreis wird auf diese Weise allgegenwärtig. Bislang war das die exklusive Magie des Mobiltelefons. Junge Leute finden es unverzichtbar, weil es auf Knopfdruck die Freunde herbeizaubert, wo auch immer diese sich gerade aufhalten mögen. Es scheint fast, als lebten sie alle irgendwie in dem Gerät.

Die Freundeszentrale im Internet bietet nun das Gemeinschaftsgefühl in Permanenz - und es ist nicht einmal mehr nötig, auf einen Knopf zu drücken. Die Mitglieder haben einander ohnehin stets im Blick.

Fehlt nur noch, dass es den besonderen Komfort des Internet eines Tages auch auf dem Mobiltelefon gibt. Schon jetzt werden bei Facebook auf Wunsch Neuigkeiten und Botschaften aus der Bezugsgruppe automatisch ans Handy übertragen. Binnen weniger Jahre würden Online-Dienste und Mobiltechnik vollends zusammenwachsen, sagt die US-Medienforscherin Danah Boyd voraus. »Im Mobiltelefon der Zukunft«, so Boyd, »sind soziale Netzwerkdienste bereits eingebaut.«

Wo rund um die Uhr Publikum ist, wächst der Reiz zur Selbstdarstellung. Kaum einer, der sich nicht mächtig Mühe gibt, cool oder wenigstens witzig zu erscheinen. Das wird gern durch die Gründung von »Gruppen« unter Beweis gestellt; bei StudiVZ gibt es schon mehr als eine Million: Die Gruppe »Lernen ist Wettbewerbsverzerrung« hat 25 042 Teilnehmer, unter dem Titel »Delphine sind schwule Haie« sind 3260 Humoristen eingetragen.

Es finden sich aber auch Refugien der Zweckmäßigkeit. Adrian von Petersdorf, Pilotenschüler bei der Lufthansa, war froh, dass er vor Beginn seiner Ausbildung die Mitschüler schon alle bei StudiVZ vorfand. »Jeder Jahrgang hat da seine eigene Gruppe«, sagt er, »für uns Neulinge war das sehr praktisch.« Bei Facebook wiederum gibt es eine starke Tradition der Firmennetze. Siemens ist mit gut 5000 Mitgliedern dabei, Microsoft gar mit 24 000.

Auch die Politik setzt bereits hie und da auf die Macht der Freundesnetzwerke: Der amerikanische Präsidentschaftsanwärter Barack Obama hat auf seiner Profilseite bei Facebook mehr als 160 000 »Unterstützer« versammelt. Weitere Gruppen, die größte 300 000 Köpfe stark, trommeln unabhängig für seine Kandidatur.

Das rasche Wachstum der sozialen Netze ruft nun die Nachahmer zu Dutzenden auf den Plan. Immer neue Dienste werden gegründet. In Deutschland wirbt Mamily.de um die Mütter und Soldatentreff.de um die Bundeswehr. Auch herkömmliche Foren wie die Freizeitknipserzentrale Fotocommunity.de beeilten sich, nachträglich eine Freundschaftsfunktion einzubauen.

Am radikalsten hat der US-Dienst MySpace den Freundschaftsgedanken umgesetzt: Jeder kann sich mit jedem umstandslos zusammenschließen. Nun tummeln sich dort Sozialprotze, die es auf Hunderttausende Freunde gebracht haben wollen. Und die Postfächer der Mitglieder werden zugemüllt von den Robotern einschlägiger Pornoportale, die sich als »Models« ausgeben und ihre »Freundschaft« anbieten.

Vor allem Facebook setzt sich von der Freundschaftinflation bewusst ab. Vielerlei Zugangsfilter sorgen dafür, dass möglichst nur Menschen zueinanderfinden, die sich auch im wirklichen Leben kennen. Es geht ausdrücklich um das Management bereits bestehender Freundeskreise.

Das ist, so scheint es, auch die bessere Geschäftsbasis. Facebook schürt derzeit Gewinnerwartungen in bedenklichem Ausmaß. Der Software-Riese Microsoft zahlte 240 Millionen Dollar für einen Anteil von ganzen 1,6 Prozent. So bemessen wäre Facebook schon etwa 15 Milliarden wert.

Gründer Zuckerberg muss sich nun beeilen, der Euphorie auch mit nennenswerten Einkünften gerecht zu werden. Im Mai verkündete er eine Neuerung, die viel Aufruhr nach sich zog: Jedermann darf seither Programme erstellen, die sich die Mitglieder

in ihre Profilseiten einbauen können. Eventuelle Einnahmen werden geteilt.

Die Folge war ein beispielloser Bauboom. Mehr als 11 000 Programme wurden schon für Facebook geschrieben: vom kleinen Scrabble-Spiel über Einbaufensterchen zum Videovorführen bis hin zu einer Software, die aus lustigen Quizfragen einen Persönlichkeitsvergleich zwischen beliebigen Mitgliedern erstellt.

Manche Programme fanden aus dem Stand epidemische Verbreitung. Die Zwillinge Ali und Hadi Partovi etwa richteten einen schlichten Musikempfehlungsdienst namens iLike bei Facebook ein. Binnen drei Stunden hatten 10 000 Mitglieder das Programm auf ihren Profilseiten installiert. Heute, kaum ein halbes Jahr später, steht der Zähler bei zehn Millionen - alles nur dank der Mundpropaganda, die Facebook automatisiert hat: Probiert ein Mitglied eine neue Software aus, wird der gesamte Freundeskreis benachrichtigt.

Schon geht unter Visionären die Rede von Facebook als dem neuen »sozialen Betriebssystem« des Internet um. Gemeint ist: Facebook wird zur Plattform, in der sich nach und nach alle Programme einbetten lassen, die der Mensch im Internet so braucht. Dann muss er den Kreis seiner Lieben gar nicht mehr verlassen.

Bislang setzt sich das Angebot freilich größtenteils aus Nichtigkeiten zusammen. Die Mitglieder können einander nun symbolisch mit Schafen bewerfen oder »kitzeln«. Es wimmelt von virtuellen »Aufklebern« für die Profilseite, und wer einem Freund eine besondere Freude machen will, kann ihm einen Blumentopf schicken mit einer Pflanze, die allmählich zu wachsen scheint. Mit einem Wort: Bislang zeigt Facebook eher das revolutionäre Potential eines Krempelladens.

Die Firma behauptet jedoch, einen weitsichtigen Plan zu verfolgen. Es gehe um Reklame neuen Typs: Die Mitglieder werden nun auch verständigt, wenn ein Freund bei einem angeschlossenen On-line-Händler eingekauft hat. MP3-Spieler, Computerprogramm oder Kinoticket - jeder Kauf ist so eine unausgesprochene Empfehlung von einem Menschen, dem man vertraut. Die Produkte breiten sich dann auf dem Infektionsweg aus. Von Freundeskreis zu Freundeskreis springen sie durchs Netz. Und stets fällt für Facebook eine Provision ab.

Allerdings spielen die Adressaten nicht recht mit. Als der Plan bekannt wurde, war die Entrüstung groß. Binnen weniger Tage unterzeichneten 50 000 Mitglieder eine Petition. Sie wollen nicht, dass die Werbewirtschaft sich einnistet in ihrer Welt des Austauschs und der Kommunikation. Die Firma ruderte zurück. Wer will, kann jetzt den Versand von Werbebotschaften unterbinden.

Auch der Kulturkritik bietet Facebook Grund zum Unbehagen: Haben es Freunde nötig, einander online zu »kitzeln«? Was hat eine eingebaute Geburtstagsfunktion mit automatischem Grußversand mit menschlichen Bindungen zu tun?

Die Stammesgeschichte des Menschen zeigt jedoch, dass auch symbolische Akte ihren Wert haben. Von dem britischen Anthropologen Robin Dunbar stammt eine einflussreiche Theorie über den Ursprung der Sprache. Unsere Urahnen, sagt Dunbar, konnten nur überleben, wenn sie das Sozialgeschehen in der Horde verstanden: Wer ist wichtig? Wer paart sich mit wem? Welche Mitgeschöpfe sind verbündet, welche zerstritten? Und vor allem: Wie verbessere ich meine Position?

Erst gab es nur das wechselseitige Lausen - das war das Medium, in dem Freundschaften angebahnt, gepflegt und dem Publikum der Mitgeschöpfe vorgeführt wurden. Doch als die Horden immer größer wurden, reichte die Pelzpflege nicht mehr hin. Aus diesem Bedürfnis, so Dunbar, entstand die Sprache - in Gestalt von Klatsch und Tratsch. Horden mit bis zu 150 Mitgliedern wurden damit möglich. Das ist, nach Dunbars Theorie, bis heute die Obergrenze für den Gruppenzusammenhalt.

Soziale Netzwerke erlauben nun aber das Vordringen in eine neue Größenordnung: Noch viel umfangreichere Gruppen lassen sich damit verwalten. Die Online-Werkzeuge erleichtern schließlich ungemein den Überblick, das Management und den Austausch.

In der Tat ist es gerade das, was Mitglieder am meisten preisen. »Nie könnte ich sonst mit meinen alten Freunden in Verbindung bleiben«, sagt Nicole Pietrasch, die in Berlin studiert. Zu ihrem Kreis bei StudiVZ gehören an die 50 Getreue von dazumal, aus der Heimatstadt Unna, von den Universitäten in Bochum und Münster, wo sie zuvor studiert hat.

In vielen Freundeskreisen spiegelt sich der Werdegang wider: Die Freunde lagern sich an wie Jahresringe, von der Schulzeit bis zum Auslandsjahr in Glasgow oder dem Praktikum in Sydney. Niemand geht mehr verloren. Das heißt auch: Immer weiter schwillt das Freundesregister an. Nicht selten ist es schon 300 Köpfe stark oder mehr.

Ewig wird das nicht so weitergehen können. Wer mit seinem Sortiment noch sinnvoll umgehen will, steht eines Tages vor einer neuartigen Frage: Wie wird man Freunde, die längst keine mehr sind, wieder los?

Früher war das kein Problem, alte Freundschaften durften unbehelligt entschlafen. Im Zeitalter der Freundeszentralen ist das nicht mehr möglich. Das »Entfreunden« wird zum ausdrücklichen Verwaltungsvorgang.

Neue Programme sind dann gefragt, die auch das Entfreunden automatisieren - denkbar wäre eine zeitgesteuerte Kündigung nach ein paar Monaten Funkstille, Entschuldigungsversand inklusive.

MANFRED DWORSCHAK

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