RAUMFAHRT Wurm im Hirn
Seit drei Stunden schon verharrte die Crew, fünf Männer und eine Frau, im Raumschiff, rücklings festgeschnallt in die Kontursitze. Die Prozedur des Countdown verlief - bis dahin - normal.
Bei »T minus seven«, sieben Sekunden vor dem Abheben der Raumschiffkombination, zündete ordnungsgemäß eines der drei Haupttriebwerke. 120 Tausendstelsekunden später schossen die rotgelben Flammen auch aus dem zweiten Aggregat. Doch dann, noch ehe die dritte Düse aufheulte, verstummte jäh das Röhren der Raketenmotoren - Startabbruch.
Bange Sekunden für die Mannschaft der Raumfähre in 40 Meter Höhe: eingezwängt zwischen fast zwei Millionen Liter Flüssig- und 1000 Tonnen Festtreibstoff, der stählerne Arm für den Notausstieg schon weggeklappt - und unten, auf der Startrampe unter den Triebwerken, züngelnde Flämmchen (von nicht verbrannten Treibstoffresten). Die automatischen Sprinkler-Fontänen begannen mit dem Löschen.
Mit einer Ausnahme (Gemini 6, 1965) war noch keine bemannte Weltraummission der Amerikaner so kurz vor dem Liftoff abgebrochen worden. Der Startcomputer hatte, im blitzschnellen Datenaustausch mit den Bordsystemen der Raumfähre, den Abbruch verfügt.
In den Sekundenbruchteilen zwischen dem Zünden des zweiten und des dritten Triebwerks signalisierte der Computer, ein Treibstoffventil am Triebwerk Nummer drei sei nicht in Ordnung. Schneller als ein Mensch mit den Wimpern schlägt, stoppte der Rechner daraufhin die Treibstoffzufuhr zu den schon gezündeten Triebwerken und gab Order, die stählernen Halteklauen zu blockieren, die sich kurz vor dem Start der 2000 Tonnen schweren Fahrzeugkombination lösen.
»Das Gefühl, in Gefahr zu sein, hatten wir nicht«, erklärte Discovery-Kommandant Henry W. Hartsfield, 50: Die vielfältig abgestufte Technik der Riskikoverminderung hatte, wie es schien, über die Gefahr triumphiert. Eine dreiviertel Stunde später verließen die Astronauten, Kommandant Hartsfield voran, Missionsspezialistin Judith A. Resnik als letzte, das Raumschiff.
Peinlich blieb die Start-Malaise - die zweite innerhalb von 24 Stunden - trotzdem für die Nasa: In Riesenlettern meldete die »New York Post« den Mißerfolg, mit einem Kürzel aus der Landsersprache: »Spaceship Snafu«. _(Snafu: Abkürzung für »Situation normal, ) _(all fucked up«, zu deutsch etwa: Lage ) _(normal, alles Scheiße. )
Zum erstenmal hatte die Discovery, die dritte von insgesamt fünf geplanten US-Raumfähren, ins All starten sollen. Frühestens Mitte Juli, so die Nasa Ende letzter Woche, könne das Raumschiff wieder startklar sein.
Die Nasa-Manager kämpfen mit der jüngsten in einer nicht endenwollenden Serie von Mißhelligkeiten, die das nun schon ein Jahrzehnt alte US-Raumfährenprogramm von Anfang an begleitet haben. Mehrmals hatten Bordcomputer und Startcomputer verrückt gespielt; Satelliten, die von der Shuttle ins All gehievt wurden, gelangten nicht oder nur mühsam in die vorgesehene Umlaufbahn; Gefahr für die Besatzung gab es, als (beim neunten Shuttle-Flug) eine der Feststoffraketen unregelmäßig abbrannte.
Eine Shuttle-Mission der US-Air Force hatte wegen technischer Probleme am Satellitentreibsatz abgeblasen werden müssen, desgleichen eine Mission im Auftrag des Pentagon mit geheimer Fracht.
Letzte Woche, nach der jüngsten Pleite, erhob die Air Force erneut die dringende Forderung nach einer eigenen schubstarken Trägerrakete für ihre geheimen Spionage- und Frühwarnsatelliten: Die technisch unzuverlässige Raumfähre, so Luftwaffen-Staatssekretär Edward Aldridge, bedeute ein »unannehmbares nationales Sicherheitsrisiko« für die Vereinigten Staaten.
Auch sonst ist die Wirkung des zweimaligen Startaufschubs für die Nasa katastrophal. Gerade der Discovery-Flug hatte eindrucksvoll unter Beweis stellen sollen, daß nun die »Kommerzialisierung des Weltraums« richtig in Gang kommt - mit einem 160seitigen Sonderteil unter diesem Titel hatte das Fachblatt »Aviation Week« die zwölfte Shuttle-Mission vorbereitet.
Zum erstenmal sollte ein zahlender Passagier mitfliegen, der 35jährige Ingenieur Charles Walker. Für 80 000 Dollar hatte ihm seine Firma McDonnell Douglas ein 200-Stunden-Astronautentraining angedeihen lassen.
Walker - wenn er nun im Juli startet - soll ein Experiment unter Schwerelosigkeit überwachen, das sich auf Erden nicht befriedigend ausführen läßt. Es geht um die Herstellung einer hochreinen Hormonsubstanz, die McDonnell Douglas für eine amerikanische Pharmafirma im All produzieren will, ein noch geheimgehaltenes Präparat, vermutlich zur Behandlung von Diabetes.
Den Nutzen ziviler Raumfahrt sollen noch zwei weitere Experimente der Discovery-Mannschaft demonstrieren: *___Erprobung eines mit Solarzellen bepflasterten, 30 Meter ____langen Sonnenpaddels, das Raumstationen und ____Robot-Fabriken, wie sie für die 90er Jahre geplant ____sind, mit Strom versorgen könnte. *___Versuche mit einem neuartigen Schleudersystem, mit ____dessen Hilfe kommerzielle Satelliten nach Art einer ____Frisbee-Scheibe aus der Ladebucht der Raumfähre ins All ____katapultiert werden sollen.
Die Zukunft des Geschäfts mit der Weltraumfahrt malen amerikanische Beobachter in rosigen Farben. Umsätze in der Größenordnung von 65 Milliarden Dollar werden für das Jahr 2000 erwartet. Hauptnutznießer mit 27 Milliarden Dollar Jahresumsatz wird vermutlich die Pharma-Industrie sein, noch vor der Kommunikations-Branche (15 Milliarden Dollar) und den Herstellern von exotischen Materialien oder Mikro-Elektronik.
All diese erwarteten Geschäfte stehen und fallen jedoch mit der Zuverlässigkeit
des Transportsystems: Vollautomatisierte, unbemannte Fabriken, in regelmäßigen Abständen von Raumfähren mit Rohstoff versorgt und »abgeerntet«, sollen den neuen Weltraum-Wohlstand herbeiführen.
Solche Zukunftsaussichten aber scheinen verdüstert, solange das amerikanische Raumfähren-Programm sich von seinen Pannen und Pleiten nicht befreit. Die Nasa-Planer merken es vor der zwölften Shuttle-Mission in den Auftragsbüchern: Nach der mißglückten Satellitenaussetzung vom letzten Februar stornierte die kanadische Firma Telesat den Startauftrag für einen Nachrichtensatelliten. Der Laderaum der Discovery wird so nur zu 70 Prozent genutzt werden.
Schon der erzwungene Startaufschub kommt die Nasa teuer zu stehen. Jeder Tag Verzögerung kostet eine halbe bis dreiviertel Million Dollar.
Letzte Woche gab es über die Ursache des Startabbruchs nur Spekulationen. Danach sah es so aus, als hätte nicht das Raketentriebwerk, und erst recht nicht das in Verdacht geratene Treibstoffventil zum Abbruch-Kommando geführt.
Der Wurm, hieß es letzte Woche in Cape Canaveral, saß wieder einmal in der Elektronik. Bereits am Montag, als neun Minuten vor dem Liftoff der erste Discovery-Startversuch gestoppt wurde, hatte einer der Bordcomputer gestreikt.
Auch bei dem Startabbruch von Dienstag letzter Woche gab es möglicherweise einen »random error«, einen Zufallsirrtum im Nervensystem der Startüberwachung. Ein irrlichterndes Fehlsignal in der elektronischen »Pipeline«, die den Startcomputer mit den zahllosen am Raumschiff angebrachten Sensoren verbindet, führte das Computer-Hirn in die Irre.
Snafu: Abkürzung für »Situation normal, all fucked up«, zu deutschetwa: Lage normal, alles Scheiße.