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COMPUTER Zaubertinte im Datennetz

Ein elektronisches Buch, das seinen Inhalt in Sekundenschnelle ändert, könnte Bildschirme in vielen Bereichen ersetzen.
aus DER SPIEGEL 12/1997

Seit Jahren schon zittern die Liebhaber des gedruckten Wortes, Bildschirme, Computer und Datennetze könnten eines Tages die gebundenen Bücher überflüssig machen. Zwar könne sich heute noch niemand vorstellen, schöngeistige Texte auf flimmernden Monitoren zu lesen, doch die Fortschritte der Bildschirmtechnik würden über kurz oder lang das Papier obsolet machen .

Die Sorge ist unbegründet, glaubt der Physiker Joseph Jacobson. Ganz im Gegenteil: Er will das Buch zum modernsten Medium der Datenwelt entwickeln.

Jacobson forscht im Media Lab des Massachusetts Institute of Technology an »elektronischer Tinte«. Diese magische Farbe kann wie ein Chamäleon beliebige Muster aufs Papier bringen. »Stellen Sie sich ein Buch vor, das in wenigen Sekunden seinen Inhalt ändert«, malt sich Jacobson die Zukunft des Druckwerks aus.

Das elektronische Buch könnte mit einer kleinen Buchse ausgestattet sein, an die sein Besitzer einen PC anstöpselt. Oder der Band würde mit einem computerisierten Bücherregal verbunden. Über die Datenleitung strömt neuer Inhalt auf die Seiten des Buches. Ein ebenso gefüttertes Journal könnte augenblicklich neueste Nachrichten aus dem Internet enthalten, Nachschlagewerke würden sich fortwährend aus Datenbanken aktualisieren.

Jacobsons elektronische Zaubertinte ist keine Farbe im herkömmlichen Sinn. Unter dem Mikroskop zeigt sich, daß die Schicht auf dem Papier winzige Bläschen bildet, in die feine Partikel eingebettet sind. Die kleinen Kügelchen haben eine weiße und eine schwarze Hemisphäre. Je nachdem, welche Seite dem Betrachter zugewandt ist, bleibt das Bläschen unsichtbar oder zeigt einen mikroskopisch kleinen schwarzen Punkt. Die Bläschen sind nur halb so groß wie der Durchmesser eines menschlichen Haares - fein genug, um Buchstaben und Grafiken mit der Kantenschärfe heutiger Computerdrucker darzustellen.

Das Erscheinen und Verschwinden der Mini-Tintenkleckse läßt sich durch ein Netz filigraner Leiterbahnen steuern, die ober- und unterhalb der Blasen auf das Papier aufgebracht sind. Wenn eine Steuerungselektronik passende Spannungspulse erzeugt, ist an den Kreuzungspunkten zweier Leiterbahnen jeweils ein Partikel dem elektrischen Feld ausgesetzt. Die Polarität des Tintenpartikels zwingt das kleine Kügelchen dann, sich entsprechend der elektrischen Feldlinien auszurichten. Je nach Polung dreht es den weißen Bauch oder den schwarzen Rücken nach oben.

Das elektrisch erzeugte Klecksmuster bliebe auch dann erhalten, wenn das digitale Buch von seiner Ladestation abgestöpselt wird. »Die elektronisch bedruckten Seiten werden genauso robust sein wie gewöhnliches Papier. Man kann das digitale Buch auch mit an den Strand nehmen«, prophezeit Jacobson.

Bis zu 20mal in der Sekunde, so hat Jacobson im Labor gemessen, können die schwarz-weißen Pigmente ihre Orientierung ändern. Auf dieser Basis wären somit billige und sogar flexible Bildschirme realisierbar. Ein Buch, das Filme zeigt, läßt sich ebenso vorstellen wie ein Werk, das verschiedene Inhalte in Speicherchips geladen hat. Ein Knopfdruck könnte so ein technisches Lexikon in einen Gedichtband verwandeln.

Mit Auskünften über die Details der Technik hält sich Jacobson zurück, solange die Patentverfahren in der Schwebe sind. Öffentlich demonstriert hat er aber schon das beliebig oft wiederbeschreibbare Blatt Papier, dem ein spezieller Drucker den sich wandelnden Inhalt aufprägt. Hier sorgt ein gebündelter Laserstrahl oder die Wärme eines Thermodruckkopfes für die Farbänderung der Partikel.

Die technischen Probleme des vollelektronisch beschriebenen Papiers seien jedoch gleichfalls schon gelöst, erklärt der Physiker. Er habe ein Verfahren entwickelt, das sowohl die haarfeinen Elektrodennetze als auch die wohlgeordneten Tintenpigmente durch eine Art Drucktechnik auf Papier oder andere Oberflächen aufbringt.

»Wir haben auch Möglichkeiten gefunden, mit der Unmenge von Leitungen fertig zu werden, an die jedes Blatt angeschlossen werden müßte«, behauptet der Forscher - wiederum ohne Einzelheiten zu verraten. Noch dieses Jahr will Jacobson den Prototyp eines digitalen Schriftstücks präsentieren. Das elektronische Buch, so glaubt er, werde schon in etwa drei Jahren Realität sein.

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Buchdruck aus dem Rechner

[GrafiktextEnde]

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Buchdruck aus dem Rechner

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* Mit einer Gutenberg-Bibel und mit 100fach vergrößertenModellen der elektronischen Tintenpartikel.

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