TIERE Zickenkrieg im Wesertal
Wer es abgeschieden mag, hat es auf der Domäne Heidbrink im niedersächsischen Landkreis Holzminden gut getroffen. Beinahe ringsum schließt sich der Weserbogen um das historische Landgut. In Sichtweite liegen ein kleiner Campingplatz, das Örtchen Polle, ein Kloster und eine Burgruine.
In der ehemaligen Schäferei lebt Kunstschmied Georg Petau. Alles hier hat er eigenhändig saniert, auch die Küchenmöbel sind selbstgezimmert. Früher besaß er eine Schafherde, heute hält er noch fünf Hühner und eine Steinbacher Kampfgans. In der Wohnung unter ihm kam gerade ein Kind zur Welt - eine Hausgeburt, die vierte schon. Rund zwanzig Bewohner zählt die kleine Kommune: Künstler, Lehrer, Handwerker.
Bald könnten die Aussteiger neue Nachbarn bekommen: Die Molkerei Petri ("Petrella«-Käse) aus dem nahe gelegenen Ottenstein hat das Gelände vom Land Niedersachsen erworben. Kaufpreis: 3,4 Millionen Euro. Nur die Wohnhäuser gehören weiterhin den Bewohnern. Petri möchte Milchziegen züchten, und zwar ganz viele: Rund 8000 Tiere sollen in drei Großställen untergebracht werden.
Seit die Pläne für die größte Ziegenfarm Europas bekannt sind, tobt in Polle der Zickenkrieg. Die Anwohner fürchten Gestank und Verkehrslärm durch die Milchlaster; und sie haben Angst, dass die Touristen wegbleiben. Der Weserradweg, eine der beliebtesten Fahrradstrecken der Republik, führt an der Domäne vorbei. Für das Bauvorhaben müssten Teile des Landschaftsschutzgebiets Wesertal aufgehoben werden.
Anderen Kritikern geht es um das Schicksal der Geiß: »Jetzt erwischt die industrielle Massentierhaltung auch noch die Ziege«, klagt der Kieler Zoologe Sievert Lorenzen, Vorsitzender des Nutztierschutz-Verbands »Provieh«. Gemeinsam mit dem BUND, dem Nabu und anderen Tierschutzverbänden hat sein Verein eine grimmige Protestnote gegen die Ziegenfabrik verfasst.
Wie genau er sich das Ziegenleben auf dem Heidbrink vorstellt, will der Käse-Konzern nicht verraten. In einer internen Betriebsbeschreibung heißt es in dürren Worten, dass die Fütterung mit Fertigfutter aus Automaten erfolgen solle, »ein Freilauf der Ziegen erfolgt nicht«.
Ausgerechnet ein Wappentier des Ökolandbaus soll somit hinter Gitter. Weil Ziegenmilch auf dem deutschen Markt traditionell kaum eine Rolle spielt - anders etwa als in Frankreich, Griechenland oder Italien -, ist die Ziegenzucht hierzulande eher eine Liebhaberei. Viele Ziegenbauern haben kleine Bestände und vermarkten Milch und Käse selbst. Überproportional viele der Tiere springen auf Biohöfen umher.
Doch auch beim deutschen Verbraucher wird Ziegenkäse beliebter, insbesondere Kuhmilch-Allergiker weichen gern auf die Geißenmilch aus. Zudem bringt ein Liter Ziegenmilch dem Erzeuger rund 40 Cent ein (Kuhmilch: 26 Cent). Und für das Nischenprodukt gelten keine Quoten.
Kein Wunder also, dass die kleinen Wiederkäuer auch für industrielle Erzeuger interessant werden. In den Niederlanden gibt es längst Ställe mit mehr als tausend Tieren, auch in Sachsen, Thüringen und Schleswig-Holstein leben große Herden - die Bestandszahlen sind jedoch weit entfernt von der geplanten Massentieranlage in Niedersachsen.
Veterinärmediziner Martin Ganter, Professor an der Klinik für kleine Klauentiere an der Tierärztlichen Hochschule Hannover, sieht in der Ziegenfabrik denn auch ein spannendes Forschungsprojekt: »Über so große Gruppen haben wir bisher kaum Daten«, sagt er.
»Ziegen sind sehr schlaue Tiere«, sagt die deutsche Ziegenforscherin Nina Keil, die beim Schweizer Bundesamt für Veterinärwesen arbeitet. »Auch in Gruppen von 100 Tieren kennen sie einander.«
So können Ziegen richtige Freundschaften schließen. »Ziegen, die sich mögen, liegen zum Beispiel oft zusammen herum«, erklärt Keil. Andererseits, so die Agrarwissenschaftlerin, »können sie auch sehr fies sein": Gibt es in einer Herde keine Rückzugsmöglichkeiten, »werden schwächere Tiere regelrecht gemobbt«.
Ein geißengerechter Stall müsste deswegen auf jeden Fall Ruhezonen bieten, am besten mit Sichtschutzwänden und Regalbrettern - die geschickten Kletterer liegen gern hoch. Auch ein Hof mit Felsen zum Kraxeln und Zweigen zum Abnagen, so Forscherin Keil, sei bei den Tieren beliebt.
Das alles ist bei Petri nicht geplant. Tiermediziner Ganter hält es aber auch nicht für zwingend notwendig: »In so großen Gruppen ist genügend Platz, um dominanten Ziegen aus dem Weg zu gehen.« Der Stress durch Rangeleien nehme womöglich sogar ab: »In sehr großen Verbänden werden die Hierarchien unterbrochen - die Tiere wissen dann einfach nicht mehr, mit wem sie gestern Streit hatten.«
Schon aus wirtschaftlichen Gründen, da sind sich die Forscher einig, muss der künftige Ziegenzüchter Petri seine Tiere bei Laune halten: Die bockigen Vierbeiner sind erstaunlich empfindlich.
Im Verhältnis zu ihrem Körpergewicht geben Ziegen zwar viel Milch (rund zwei Liter am Tag). »Sie haben aber kaum Reserven und reagieren sehr schnell auf Fütterungs- und Haltungsfehler«, erklärt Keil.
Und geht es der Ziege schlecht, versiegt auch die Milchquelle. JULIA KOCH