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EVOLUTION Zweibeiner mit wehem Rücken

Weshalb wird der Mensch krank? Warum hat die Evolution über die Jahrmillionen nicht alle Gene ausgemustert, die den Menschen quälen oder gar töten? In einem neuen Buch spüren zwei US-Forscher nach dem evolutionären Hintersinn von Krankheit und Leiden.
aus DER SPIEGEL 12/1997

Millionen Jahre lang hat die Evolution an seinem Erbgut gebastelt. Sie schenkte ihm den aufrechten Gang und eine raffinierte Greifhand und obendrein das verblüffendste Gehirn weit und breit: der Homo sapiens, ein Meisterwerk der natürlichen Zuchtwahl der Arten - auf den ersten Blick.

Doch bei Beschau des Serienprodukts drängt sich ein Verdacht auf: Als die Evolution den Menschen schuf, übte sie bloß. Denn warum bürdete sie, die zu jedem Wunder fähig ist, dem Menschen Gene auf, die ihn anfällig werden lassen für Diabetes und Gicht, Krebs und Schlaganfälle?

Zucker und Fett machen dick, viele Dicke erleiden einen Herzinfarkt, dennoch trägt der Mensch Gene, die ihn geradezu zwingen, nach solch ungesunder Kost zu gieren.

Töricht wirkt auch mancher Kampf des Immunsystems: Oftmals beschränkt sich die Abwehr nicht auf feindliche Viren und Bakterien, sondern streitet gegen gesunde Zellen des eigenen Körpers. Als Folge dieser »friendly fire«-Attacken muß sich der Mensch mit Autoimmunerkrankungen wie Arthritis, Rheuma und Multipler Sklerose quälen.

Aus all diesem Leid zieht der Mensch augenscheinlich keinen Vorteil im Überlebenskampf - warum also hat die Evolution diese genetischen Mängel nicht schon vor Äonen beseitigt?

Zwei amerikanische Forscher wollen diese Rätsel lösen. Der Mediziner Randolph Nesse und der Evolutionsbiologe George Williams, die beiden Begründer eines erkenntnisreichen Faches namens darwinistische Medizin, spüren dem evolutionären Hintersinn der Krankheiten nach. In ihrem Buch »Warum wir krank werden«, das jetzt auf deutsch erscheint, rücken die Experten viele Plagen in ein - aus evolutionärer Perspektive - versöhnliches Licht*.

Manche Pein ist demnach keineswegs überflüssig wie ein Kropf. Wer sie lindere, könne seiner Gesundheit sogar schaden, denn: »Die Fähigkeit zu leiden ist eine nützliche Verteidigung.«

Klassisches Beispiel ist das Fieber. Es entstand als Abwehr gegen Infektion, denn viele Bakterien können sich bei hohen Körpertemperaturen nicht mehr vermehren.

Anfang des Jahrhunderts, als Antibiotika noch nicht entdeckt waren, infizierte der Arzt Julius Wagner von Jauregg Syphiliskranke zusätzlich mit fiebertreibender Malaria. Die Folge: 30 Prozent der Geschlechtskranken überlebten, gegenüber nur einem Prozent zuvor. Der wagemutige Experimentator erhielt dafür 1927 den Nobelpreis.

Wenn Ärzte Fieber mit Medikamenten und Beinwickeln senken, schreiben Nesse und Williams, dauerten manche Erkrankungen nur um so länger. Ebenso unglück-

selig sei es manchmal, Husten zu blockie-

* Randolph M. Nesse, George C. Williams: »Warum wir krank werden«. Verlag C. H. Beck, München; 320 Seiten; 48 Mark.

ren. Sein Sinn besteht darin, die Lunge von zuviel Schleim und Krankheitserregern zu reinigen. »Wenn man ihn unterdrückt«, spekulieren die Autoren, »stirbt der Patient womöglich an Lungenentzündung.«

Gegen fast alle Bedrohungen hat der Feinschliff der Evolution Körper und Psyche des Menschen gewappnet. Einige Arten von Durchfall stellen eine ausgeklügelte Reinigungsaktion zum Ausschwemmen etwa von Shigella-Bakterien dar. Angst und Schmerz schützen vor gefährlichen Verletzungen. Die morgendliche Übelkeit von Schwangeren soll sie davon abhalten, ihr Ungeborenes mit Giften, die in der Nahrung enthalten sind, zu schädigen.

Manche Krankheitsgene schützen sogar vor anderen Seuchen, zumindest wenn der Träger nur eines der betreffenden Gene von Mutter oder Vater geerbt hat. Wer die Mutation für Sichelzellenanämie besitzt, ist fast immun gegen Malaria, eine Anlage für Mukoviszidose bewahrt vielleicht vor manchen Durchfällen. Doch krank wird der Mensch trotzdem, denn zum Nachteil der heute Lebenden stammen seine Gene aus ferner Zeit. Viele zehntausend Jahre lebte Homo sapiens als umherstreifender Jäger und Sammler in den Savannen Afrikas. Sein Überlebenskampf gegen Löwen, Parasiten und Hunger hat seine genetische Ausstattung geprägt.

Bis auf 0,005 Prozent stimmen die Erbanlagen der Urzeitler mit denen der heutigen Menschen überein - und damit beginnt das Elend der Zivilisationskrankheiten: »Aus der Kluft zwischen unserer Anlage und unserer Umwelt«, sagen Nesse und Williams, »entsteht ein Großteil moderner Erkrankungen.«

Nach Fett, Zucker und Salz zu lechzen machte einst im kargen Afrika Sinn: Als Kalorien knapp waren, hatten Individuen, die mehr davon aßen, als sie brauchten, einen klaren Überlebensvorteil. Auch Bewegungsfaulheit war einst eine optimale Strategie, mit knapper Energie sparsam umzugehen. Daß diese archaischen Anlagen, als Mitauslöser von Herzkrankheiten und Diabetes, mittlerweile lebensgefährlich werden können, ist evolutionäres Pech.

Andere augenscheinliche Fehler der Evolution sind Nesse und Williams zufolge keine Designschwächen, sondern notwendige Kompromisse. »Jeder Vorteil hat seinen Preis, und auch der wertvollste Vorteil kann auf Kosten der Gesundheit gehen.«

Der aufrechte Gang zum Beispiel hat den Aufstieg der Hominiden zum Homo sapiens erst möglich gemacht - doch dafür muß er nun mit Rückenschmerzen zahlen: Der schwachgerüstete untere Teil der Wirbelsäule ist eben ein Originalbaustein für Vierbeiner.

Im Körper des Menschen vermuten Nesse und Williams »ein ganzes Bündel solcher Kompromisse«. Als Evolutionstheoretiker staunen sie vor allem darüber, daß nicht alle Menschen an Krebs sterben. Der menschliche Organismus besteht aus mehr als zehn Billionen Zellen, die sich täglich millionenfach teilen und erneuern. Die Qualitätskontrolle bei dieser Zellvermehrung ist eine von der Evolution geschaffene Glanzleistung an Komplexität und Präzision, die nur selten versagt.

Bestimmte Gene signalisieren der Zelle, zum Beispiel bei einer Wundheilung, daß das Gewebe nun wieder ausreichend gewachsen ist - die Zellteilung wird gestoppt. Zusätzlich sind Tumorsuppressorgene aktiv, die übertriebenes Wachstum unterdrücken. Das System ist mehrfach gesichert bis hin zu einem genetisch verankerten Notfallbefehl, daß sich eine Zelle lieber umbringen soll als zu entarten.

Verschleiß, natürliche Gifte und früher unbekannte Schadstoffe wie Tabakrauch oder Chemieprodukte machen diesem ausgeklügelten Mechanismus jedoch zu schaffen. Daß die Menschen ihren Krebs nun in höherem Lebensalter erleben, ist auch der Preis dafür, daß mit Hilfe der Medizin die Lebenserwartung gesteigert wurde.

Nach wie vor aber bleiben die meisten Menschen in jungen Jahren davon verschont: Zumindest über die gesamte Lebensspanne eines Steinzeitmenschen funktioniert die Krebsabwehr blendend.

Wenn Nesse und Williams auch einräumen, daß ihre darwinistische Medizin zum Teil ein Wucherfeld der Spekulation darstellt, in einem Punkt sind sie sich sicher: Niemals werden die Menschen den Kampf gegen die Mikroorganismen gewinnen.

Sie sind den Viren und Bakterien unterlegen, weil diese sich viel rascher vermehren. »Die Bakterien-Evolution erreicht innerhalb eines Tages Entwicklungen, für die wir tausend Jahre benötigen.«

Wann immer sich das Immunsystem auf einen dieser winzigen Erreger eingeschossen hat, kommt er in getarnter Gestalt zurück und beginnt den Kampf von neuem. Das Immunsystem wurde von der natürlichen Selektion daher zu paranoider Wachsamkeit getrimmt. Davon profitiert jeder Mensch, mancher jedoch büßt mit Autoimmunkrankheiten.

Auch menschlicher Erfindungsgeist hilft gegen die mikroskopisch kleinen Killer auf Dauer nicht weiter. Immer häufiger überwinden Bakterien die für sie einst tödlichen Antibiotika. Auch das HI-Virus rüstet wieder auf: Über die natürliche Selektion drohen sich einige Stämme dem Zugriff der brandneuen Aidsmedikamente schon wieder zu entziehen.

* Randolph M. Nesse, George C. Williams: »Warum wir krankwerden«. Verlag C. H. Beck, München; 320 Seiten; 48 Mark.

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