Studie zu Doggerland Der versunkene Archipel in der Nordsee

Mitten in der Nordsee lag einst eine besiedelte Insel. Doch ein Tsunami versenkte alles Land – das war der Stand der Wissenschaft. Nun haben Forscher Spuren von Leben im Meeresboden gefunden.
Blick auf die Nordsee an der Küste der Grafschaft Norfolk

Blick auf die Nordsee an der Küste der Grafschaft Norfolk

Foto: David Tipling / Education Images / Universal Images Group / Getty Images

Vor mehr als zehntausend Jahren hätten es die Briten nicht so leicht gehabt mit der Abspaltung von Europa, zumindest aus geografischer Sicht. Damals, zum Ende der letzten Eiszeit, lagen dort, wo sich heute die Nordsee befindet, weite Landmassen. Sie verbanden Großbritannien mit Kontinentaleuropa und Skandinavien, wohin sich die letzten Gletscher der Kaltzeit zurückgezogen hatten.

Man konnte im Grunde zu Fuß nach England gehen. Nur ein riesiges Flusssystem musste man überqueren, es hatte sein Bett im Ärmelkanal und wurde von Rhein, Seine und Themse als Nebenflüsse gespeist. Für die Menschen der Steinzeit war dieses Doggerland ein attraktiver Siedlungsraum. Sie zogen nach Norden und manche blieben in der Region zwischen Dänemark und der britischen Ostküste, irgendwo auf der 25.000 Quadratkilometer großen Fläche.

Diese Karte zeigt das Storegga-Ereignis und Orte, an denen Spuren davon gefunden wurden

Diese Karte zeigt das Storegga-Ereignis und Orte, an denen Spuren davon gefunden wurden

Foto: M. Muru / Cambridge University Press / Antiquity Publications

Hier gab es Wild in den Wäldern und Fische in Seen und Flüssen. Doch die Menschen steckten mitten in einem Anpassungsprozess. Statt die Herdentiere der Altsteinzeit zu jagen, lernten sie nun, einzelne Beutetiere zu erlegen und Fische zu fangen. Immer mal wieder gelangten prähistorische Werkzeuge oder Knochen von Landtieren aus der heutigen Nordsee ans Licht.

Aber durch das Abschmelzen der Eismassen stieg der Meeresspiegel, teilweise sogar bis zu einem Meter pro Jahrhundert. Das Doggerland wurde überspült und ein Zentralgebiet um die Doggerbank zur Insel. Vor gut 8000 Jahren war es dann schlagartig vorbei mit dem Leben im Inselparadies – jedenfalls dachten Forscher das lange. Mindestens ein Tsunami fegte über Meer und Küsten hinweg. Ausgelöst durch gigantische, unterseeische Erdrutsche vor der Küste Norwegens im Nordatlantik. Rund um die Nordsee fanden Geologen Spuren dieser Katastrophe, dem sogenannten Storegga-Ereignis, teils weit im Inland. Die größte Flutwelle erreichte auf den Shetlandinseln wohl Höhen von bis zu 20 Metern.

Forscher haben in aufwendigen Untersuchungen eine überraschende Erkenntnis gewonnen. Möglicherweise ist das Doggerland doch nicht vollständig untergegangen, glaubt ein Team um den Archäologen Vincent Gaffney von der University of Bradford. Ein kleiner Inselarchipel könnte die Wassermassen überstanden und noch lang der Nordsee getrotzt haben. Und vielleicht waren die Inseln ein Rückzugsort für die damaligen Siedler. »Die bisherige Vorstellung von dem katastrophalen Ereignis muss möglicherweise überdacht werden«, schreibt Gaffney in der Fachzeitschrift »Antiquity« .

Zeitliche Rekonstruktion der Küstenlinie mit dem Doggerland und der Doggerbank

Zeitliche Rekonstruktion der Küstenlinie mit dem Doggerland und der Doggerbank

Foto: M. Muru / Cambridge University Press / Antiquity Publications

Die Wissenschaftler stellen in der Studie Möglichkeiten vor, um Katastrophen wie das Storegga-Ereignis geologisch und archäologisch zu untersuchen und die Geschichte des Doggerlandes zu rekonstruieren. Dazu arbeiteten sie über Jahre von Schiffen aus und kartierten den Meeresboden über Schallwellen. Wichtige Erkenntnisse gewannen sie aus Bohrkernen, durch die sie einen Querschnitt der Sedimente gewinnen konnten. Dort fand das Team das Erbgut von Tieren und Pflanzen, die auf Doggerland lebten, berichten sie in einer zweiten Studie, die im Fachmagazin »Geosciences«  veröffentlicht wurde. Schon früher hatten Sediment-Untersuchungen Erstaunliches offenbart. Moose hatten das Massensterben ausgezeichnet erhalten überstanden, da sie vom Meeresschlamm hervorragend konserviert wurden. So konnten Forscher vor einigen Jahren sogar herausfinden, zu welcher Jahreszeit die Tsunamis über das Doggerland fegten.

Anhand der Spuren in den Sedimenten ergibt sich ein interessantes Bild. Demnach war nur der nördliche Teil der Insel überspült – von dort breitete sich das Wasser aus. Aber manche Hügel und auch die Vegetation könnten die Wucht der größten Welle gemildert haben, weshalb nicht alles Land verschwand. Sicherlich fielen der Katastrophe viele Menschen und Tiere zum Opfer. Aber ein Teil der Insel konnte bestehen. Denn über den Schichten der Storegga-Rutschung, die sich auch in der Sedimentierung zeigt, fanden die Wissenschaftler wieder Hinweise auf Pflanzen und Tiere. Es muss also weiter Leben auf Doggerland gegeben haben, zumindest noch einige Jahrhunderte.

Archäologische Belege fehlen

Ob auch Menschen den Tsunami überlebt haben, lässt sich allerdings nicht sagen. Die Analyse der Bohrkerne gibt darüber keine Auskunft. Und nach Siedlungsspuren können die Forscher auch nicht graben. Dafür müssten sie nicht nur auf den Grund der Nordsee tauchen, sondern auch noch tiefer im Meeresboden suchen. Allerdings geben sie in ihren Untersuchungen aufgrund der Oberflächenprofile ein paar Siedlungsplätze an, die sich gut geeignet hätten.

Das Leben wäre für die Doggerländer nach der Katastrophe aber deutlich schwieriger gewesen. Denn das Meerwasser hatte die Böden versalzen und öde Sumpflandschaften zurückgelassen. Und gegen 5500 v. Christus war ohnehin alles vorbei. Zu dieser Zeit holte sich das Meer die letzten Meter des Archipels in der Nordsee.

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